Als die schöne Grace eines späten Abends in einem kleinen Dorf namens „Dogville“ um Zuflucht bittet, sind die Einwohner zuerst wenig begeistert. Zu eingespielt sind die Abläufe der Dorfgemeinschaft, zu festgefahren sind die Gedanken der dort Ansässigen. Trotzdem wird Grace eine zweiwöchige Probezeit gewährt, in der sie den Bewohnern fleißig zur Hand geht. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Die schöne Unbekannte birgt ein dunkles Geheimnis.

„Dogville“ ist ein minimalistisches Drama aus der Feder des Dänen Lars von Trier, der mit diesem Spielfilm seine „USA-Trilogie“ begann, mit „Manderlay“ 2005 fortführte, bis zum heutigen Tage aber nie abschloss. Das starbesetzte Werk hat eine Lauflänge von 177 Minuten und erntete schon vor der Veröffentlichung harsche Kritik, da Von Trier aufgrund seiner Flugangst selbst nie in den USA gewesen ist.

MV5BZmEyZGZkNGEtMzZiMy00Y2U5LWEyMjktZTA1MDY5ZWU2NTUzXkEyXkFqcGdeQXVyMjUyNDk2ODc@._V1_

Es gibt Filme, die überzeugen durch eine glänzende Optik, opulente Kulissen oder technisch hochversiertes Effektgewitter; und es gibt Filme, die fokussieren das Erzählte und setzen dabei auf Dramatik, Emotionen und vor allem auf Schauspiel. In welche Kategorie „Dogville“ fällt, ist von der ersten Sekunde an ersichtlich. Das stilisierte Dorf, das dem Werk als Schauplatz dient, ist ärmlich ausgestattet und zeichnet sich durch die nicht vorhandenen Kulissen aus. Auf den Boden geschriebene Bezeichnungen kennzeichnen die einzelnen Häuser und/oder Areale und vermitteln den Eindruck, als wäre das Stück ursprünglich für das Theater entworfen worden und habe ausversehen den Sprung auf die große Leinwand geschafft.

Wer Von Trier kennt weiß, dass diese Annahme fernab der Wahrheit liegt und sämtliche Entscheidungen bewusst von ihm getroffen wurden. Das Augenmerk liegt klar auf der Dramaturgie, dem durchdringenden Schauspiel der Akteure und der sich entwickelnden Story. Diese begleitet Grace in neun Kapiteln durch ihren Aufenthalt in „Dogville“, welcher verschiedenste Phasen durchlebt und unmittelbar mit dem Charakter des Dorfes und seiner Bewohner verknüpft ist. Was anfangs an eine bereits oft gesehene Geschichte erinnert, lässt bis zum Ende nicht erahnen in welche Richtung es gehen könnte und entwickelt sich im Fortlauf zu einem beängstigenden Portrait über den Verfall von moralischen Instanzen und der damit einhergehenden Werteverschiebung.

Von Trier gelingt ein analytisch unterkühlter Blick in das Seelenleben der Bewohner und lässt dabei sämtliche Charaktere authentisch und auf höchstem Niveau agieren.

Download

Insbesondere Nicole Kidman erweist sich dabei in ihrer Darstellung als großer Gewinn, da sie verschiedenste Gemütsbewegungen glaubhaft transportiert und bis zum Schluss nicht ersichtlich ist, welche wahre Natur sich hinter ihrer Figur versteckt. Die lange Zeit eindeutige Zeichnung von Gut und Böse verschwimmt zusehends, sodass der Zuschauer am Ende selber entscheiden muss wie er über das ihm Dargebotene urteilt. Leider birgt der Film aber die Gefahr, dass viele ebenjenes Ende ob der immensen Laufzeit gar nicht erst erleben werden. Hier hätte eine Angleichung an die sparsame Ausstattung des Films das Seherlebnis gefördert. Aufgrund der absoluten Einzigartigkeit ein marginaler Kritikpunkt, der die Klasse nur geringfügig trügen kann.

Fazit: Für den Mainstream-Kinofan in hohem Maße fordernd, aufgrund der behandelten Motive aber auch 15 Jahre nach der Erscheinung von höchster Aktualität. „Dogville“ ist ein kreatives Kammerspiel über die Verschiebung tugendhafter Ansichten, die sich im Anblick einer ungewohnten Situation schnell in Wohlgefallen auflösen. Schneller noch, als es die Kritik an der „USA-Trilogie“ nach der Erscheinung des ersten Teils letztlich tat. „Dogville“ ist nicht gnadenlos fesselnd, aber erbarmungslos ehrlich.

von Cliff Brockerhoff