In Zeiten, in denen der Konsum von Filmen durch Streamingportale wie Netflix und Co. an nahezu jedem Ort und zu jeder Zeit möglich ist, gehen besonders sehenswerte Filme leider immer häufiger in der Masse der Neuerscheinungen unter, oder werden nicht mehr als solche erkannt. Zudem fällt die Rezeption, die oft über Social Media-Posts und Kommentare stattfindet, immer verkürzter aus und die digitalen Echokammern sind nicht der Ort für tiefgründige und ausgewogene Darstellungen komplexer Inhalte. Aus diesem Grund möchten wir euch heute ein neues Format vorstellen: Unsere Filmpluskritik-Filmanalyse.

von Cliff Brockerhoff

Hierbei soll es vorrangig darum gehen, unsere Leser auf bestimmte Filme aufmerksam zu machen, die laut unserer Einschätzung mehr Aufmerksamkeit verdienen oder nicht als die Meisterwerke wahrgenommen werden, die sie unserer Meinung nach sind. Auf der anderen Seite soll das Format aber auch eine Hilfestellung für diejenigen sein, die sich nach einer Sichtung des betreffenden Films mit offenen Fragen bezüglich Inhalt oder Deutung des Gesehenen konfrontiert sahen. An dieser Stelle sei deshalb schon einmal darauf hingewiesen, dass der weitere Textverlauf unserer ersten Analyse massive inhaltliche Spoiler beinhalten wird.

Den Anfang der Reihe macht ein aktuelles Werk aus der Feder von Jordan Peele. Der US-Amerikaner, der 2017 mit „Get Out“ quasi aus dem Nichts für einen Erfolg sorgte und sogar einen Oscar gewinnen konnte, brachte im März 2019 seinen zweiten Film in die weltweiten Lichtspielhäuser. „Wir“ (im Original „Us“) sorgte mit seinem atmosphärischen Trailer schon vor dem Kinostart für eine hohe Erwartungshaltung – und spaltet aktuell die Gemüter wie fast kein zweiter Film in diesem Jahr es zuvor geschafft hat. Doch woran liegt das?

Die offensichtliche Handlung des Films ist schnell erzählt und wird vom Trailer auch nicht verheimlicht: Im Jahre 1986 verbrachte die kleine Adelaide mit ihren Eltern einen Urlaub in Kalifornien, wo sie in einem Spiegelkabinett einem anderen Mädchen begegnete, das ihr zum Verwechseln ähnlich sah. Nun, viele Jahre später kehrt sie als Mutter mit ihrer eigenen Familie an den Ort des Geschehens zurück. Eines späten Abends wird die vierköpfige Familie plötzlich von vier ungebetenen Gästen heimgesucht, die sich auch nach eindringlicher Bitte nicht abweisen lassen. Fortan beginnt ein Spiel um Leben und Tod, bei dem erst ganz am Ende klar wird, wer die Besucher eigentlich sind. Thematisch erinnert die Story also an einen typischen Home-Invasion Horrorfilm, gräbt bei genauerem Hinsehen aber deutlich tiefer; im wahrsten Sinne.

Ein Leben hinter den Spiegeln

Denn auch wenn die Eindringlinge rein optisch das exakte Ebenbild der Familie zu sein scheinen und äußerlich nur wenige Unterschiede erkennen lassen, ist ihr Verhalten doch komplett anders als das der Wilsons. Kommunikation erfolgt durch animalische Laute und auch die Bewegungen erinnern eher an die Motorik von Tieren als an menschlich koordinierte Abläufe. Einzig Adelaides Abbild „Red“ beherrscht die Sprache der Menschen, leidet aber ebenfalls unter einer Beeinträchtigung ihrer Stimmbänder. Was bei vielen Zuschauern für Gelächter sorgte, ist Peeles Verbildlichung der in der Sozialwissenschaft lange ergründeten Theorie über den Zusammenhang zwischen Herkunft und Chance: Später im Film erfahren wir, dass Adelaide einst im Spiegelkabinett entführt wurde und fortan „ihr Schatten“ ihren Platz in der Oberwelt einnahm. „Red“, die also eigentlich aus einer Welt unter der unseren stammt, entwickelt sich zu einer liebenden und gesunden Mutter mit all den Möglichkeiten, die wir als selbstverständlich erachten. Die eigentliche Adelaide wächst dagegen in der Unterwelt auf; ebenjener Welt, die uns, wie der Raum hinter einem Spiegel, verborgen bleibt oder die wir schlicht nicht sehen wollen. Ihre Entwicklung stagniert und ihr weiterer Lebensverlauf ist vorbestimmt. Bedenkt man, dass der Originaltitel ein Akronym für die U(nited) S(tates of America) ist, lässt sich ein moralischer Fingerzeig Peeles nicht von der Hand weisen, da die Zweiklassengesellschaft dort besonders ausgeprägt ist und vor allem der dunkelhäutige Teil der Gesellschaft noch heute mit Vorurteilen, einer ungleichen Chancenverteilung und aktuell auch noch mit einem selbstgebräunten Präsidenten zu kämpfen hat, dem deren Anliegen herzlich egal sind.

Im Kaninchenbau

Verstärkt wird Peeles Annäherung von allerlei Symboliken und Metaphern, die für sich betrachtet erst einmal ziemlich verwirrend sind, im Zusammenhang aber Sinn ergeben. Schon vor dem eigentlichen Film erfährt der Zuschauer via Texteinblendung von einem unterirdischen Tunnelsystem, von dem niemand so genau weiß, warum es eigentlich existiert. Kurz darauf folgt eine lange Einstellung unzähliger geschlossener Hasenkäfige, wobei der Großteil der Hasen weißes Fell hat. Zufall? Mitnichten. Peele, der laut eigenen Aussagen „nie einen Weißen in den Hauptrollen seiner Filme besetzen würde“, wählt jede Einstellung mit Bedacht und lockt findige Betrachter schon ganz zu Anfang auf eine Fährte. Die Dominanz der weißen Rasse, verpackt in einer Ansammlung unschuldiger Langohren. Aber warum Hasen?

Ganz nüchtern betrachtet sind sie eine Verdeutlichung des Experiments, von dem der Film berichtet. Die in der Unterwelt lebenden Doppelgänger werden als gescheiterter Versuch der Regierung erklärt, welcher eigentlich dazu führen sollte, die Obrigkeiten zu kontrollieren. Sie sind somit nichts anderes als Versuchskaninchen. Wer zudem die Geschichte von Alice im Wunderland kennt, wird hier deutliche Parallelen wahrnehmen. Das Mädchen, das einst einem gestressten Kaninchen folgte und durch den Kaninchenbau in eine andere Welt gelangte, lässt sich auf Adelaides Erlebnis im Spiegelkabinett projizieren. Nur, dass Adelaide eben nicht in einer wundersamen Welt voller fantastischer Erlebnisse landet, sondern in einer ganz anderen Parallelwelt – ihrer persönlichen Hölle.

Einer Welt, in der alles anders ist und aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Dieser Aspekt findet sich insbesondere in der Kleidung derer wieder, die ihre Reise von der Unterwelt in die Oberwelt antreten. Die roten Overalls erinnern stark an die typische Kleidung von Strafgefangenen, und auch die Farbe per se lässt sich in vielerlei Hinsicht deuten. Rot steht seit Lebzeiten für Gefahr, im Straßenverkehr für Stillstand und ist nicht zuletzt eine der dominierenden Farben in der Flagge der USA. Die Protagonistin trägt dagegen ein weißes Shirt, das sich gegen Ende blutrot färbt, womit noch einmal verdeutlicht werden soll, dass eine Rückkehr zu den Wurzeln unumgänglich ist. Auch, wenn sie es einst in die „richtige“ Welt geschafft hatte, kann sie sich selbst letztlich nicht entkommen und fällt immer wieder in alte, primitive Muster zurück. Die Treppe, die beide Welten miteinander verbindet, führt ausschließlich in eine Richtung: nach unten.

Ein Stich ins Herz

Neben dem Overall waren sowohl im Trailer, als auch auf dem offiziellen Filmposter, zwei weitere wichtige Symboliken zu erkennen: Eine Schere und ein Lederhandschuh, wobei erstere die wohl am offensichtlichsten gewählte Metapher des ganzen Films ist. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander“ – ein Satz, den ein jeder schon einmal gehört haben wird und der ebenfalls im direkten Zusammenhang zur aufbereiteten Thematik steht. Bekannt ist das Werkzeug vor allem dafür Dinge zu zerschneiden, und wenn sich eine Scherenseite bewegt, tut die andere es ihr gleich. Ebenso wie die Menschen unter der Oberfläche simultan die identischen Bewegungen ausführen wie ihre Abbilder.

Etwas freier verläuft dagegen die Deutung des Handschuhs. In Anbetracht der vielen Anspielungen auf allerlei Horrorklassiker (Chucky, Der weiße Hai, Freitag der 13. oder aber auch Michael Jacksons „Thriller“ Video), erinnert er, ebenso wie der Overall, an die bekannten Slasher-Helden der 1980er Jahre. Eine eher scherzhafte Hommage an Jason Vorhees und Co., in der Peele sowohl seine komödiantische Vergangenheit, als auch seinen persönlichen Geschmack einfließen lässt. Nicht zuletzt trägt der Sohn der Familie den Namen „Jason“, und nicht ohne Grund waren sämtliche Schauspieler angehalten sich zehn von Peele ausgewählte Horrorklassiker vor Drehbeginn am heimischen TV zu Gemüte zu führen.

Eine Verkettung unglücklicher Umstände

Apropos TV; Wer am Anfang des Films aufmerksam gewesen ist, wird einen bestimmten Werbespot wahrgenommen haben, der an dieser Stelle aber noch unbedeutend erschien. Die Rede ist von „Hands across America“, einer Benefizveranstaltung, bei dem in Form eine kilometerlange Menschenkette durch die USA auf soziale Missstände und die weltweite Hungersnot hingewiesen werden sollte. Viele Menschen spendeten, doch gemessen an den Erwartungen und den Kosten verkam die Veranstaltung zu einem Desaster, das letztlich nicht zu dem heilsbringenden Event wurde, als das die Regierung es der Bevölkerung verkauft hatte. Anstelle einer endlosen Kette bot sich das Bild vieler einzelner Verbindungen mit großen Lücken, die schien, als hätte man sie mit einer Schere durchtrennt. Ein politisches Statement Peeles, der einen satirisch bitteren Blick in die Vergangenheit wirft und gleichzeitig anmahnt, dass die damaligen Problematiken aktueller denn je sind.

Und in der Bibel steht geschrieben…

Ebenso ernst wie die aktuelle Lage ist Peele bei der Wahl eines Bibelzitates, welches im Film zwar nicht explizit ausgesprochen, aber mehrfach angedeutet wird. In Jeremiah 11:11 steht: „Darum siehe, spricht der Herr, ich will Unheil über sie kommen lassen, dem sie nicht entgehen sollen; und wenn sie zu mir schreien, will ich sie nicht hören.“ Nicht nur, dass die Zahlenfolge eine weitere Anspielung auf das Leben der Menschen und ihrer Doppelgänger ist und sich beispielsweise in einer Uhrzeit, einem Spielstand oder der Nummer eines Krankenwagens wiederfindet, nein; auch der Inhalt der Bibelpassage lässt sich auf die Handlung übertragen. Adelaide, wohl wissend, dass sie es damals war die entkam und einen Platz einnahm, der gemessen an ihrer Herkunft nicht für sie vorgesehen war, erlebt im Film ebenjenes Unheil, dem sie nicht entgehen kann. Der vergebliche Notruf bei der Polizei ist der Schrei, der nicht erhört wird. Es ist Gottes Strafe für ihr Vorhaben dem Unheil eines vorbestimmten Lebens entfliehen zu wollen. Ihr Wunsch nach Freiheit ist ihr Vergehen; ein Vergehen, das eigentlich gar keines ist.

Fazit

Vorurteile und die Bewertung anderer anhand selbst auferlegter Kriterien sind ein zweischneidiges Schwert. In jeder Vorverurteilung steckt sowohl die eigene Erfahrung als auch das, was uns über Generationen hinweg gelehrt und vorgelebt wurde um uns selbst zu schützen oder in der Rangordnung zu positionieren. Was Jordan Peele davon hält, wird in „Wir“ nur allzu deutlich. Er versucht gar nicht erst die mysteriösen Doppelgänger ausgiebig logisch zu erklären, sondern investiert sein Potenzial und seine Leidenschaft viel mehr in die Hintergründe der aufgezeigten Problematiken. Das wahre Böse steht nicht mitten in der Nacht als Monster in unserer Einfahrt; nein, es lebt mitten unter uns in der Gesellschaft und schleicht sich in die Herzen und Gedanken derer, die sich nicht dagegen erwehren. Und auch, wenn vieles in unserem Denken unbewusst abläuft und wir ständiger Manipulation oft schutzlos ausgesetzt sind, liegt es doch in der Verantwortung jedes Einzelnen, sein Gegenüber, ungeachtet aller verankerten Ängsten und Sorgen, mit Bedacht zu beurteilen.

Peeles Werk zeigt auf beeindruckende Art und Weise wie der Keil innerhalb unserer Sozialisation zu jener Trennung führt, dessen Konsequenz wir uns zu selten bewusst sind. Nur, dass diese eben nicht durch einen Scherenschnitt ausgelöst wird, sondern alleine durch unser Denken. „Wir“ baut eine Brücke zwischen spannendem Genrematerial und einer subtil eingeflochtenen Sozialkritik, ohne dabei permanent den moralischen Zeigefinger zu erheben. Und auch wenn es einigem Hintergrundwissen bedarf, um wirklich hinter die Maske des Werkes blicken zu können, ist die Materie aktueller denn je, sodass „Wir“ nicht weniger als einer der wichtigsten und besten Filme des Jahres ist.