Wie beginnt man eine Kritik zu einem von der Allgemeinheit, der Filmwelt und nicht zuletzt auch persönlich heiß erwarteten Film, der nach mehreren Terminverschiebungen endlich ins Kino (bzw. auf Netflix) kommt? Mit einem Verweis auf die (Marvel-) Diskussionen der letzten Wochen, die dem Regisseur dieses Films ungewohnte (und teils unfaire) Kritik einbrachte? Mit einer Gegenüberstellung seines neuesten Werks mit den von ihm gescholtenen “Vergnügungspark-Filmen”? Mit dem Versuch einer Einordnung in das bisherige Euvre? Am besten vielleicht mit einer kurzen Zusammenfassung, was “The Irishman” ist – und was er nicht ist; nicht ist er ein typischer Gangster-Film, auch nicht ein typischer Netflix-Film, schon gar nicht leichte Kost zum Nebenbei-Streamen; und das ist “The Irishman”: Eine zutiefst melancholische filmische Abrechnung, ein extrem fordernder Film, der die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer einfordert und ihnen einiges abverlangt, und nicht zuletzt eine überraschend berührende und sensible Studie über Freundschaft, Gewalt, Schuld, Sühne und Reue. Ein zeitweise durchaus untypischer Scorsese-Film also, der sich stilistisch und tonal zwischen “Good Fellas” und “Silence” positioniert, und der seine volle Wirkung erst gegen Ende entfaltet.
Scorsese beginnt sein neuestes opus magnum mit einem seiner bekannten tracking shots, allerdings deutlich entschleunigt und nicht durch die labyrinthischen Gänge eines bekannten Mafia-Etablissements, sondern durch die Hallen eines Altenheims. Die Kamera hält vor einem gealterten, ergrauten Frank Sheeran alias Robert de Niro, der in gebrochener Stimme beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen: Die erste Einstellung ist schon ein Hinweis darauf, wohin die Reise durch ein (weiteres) Gangsterleben führen sollte – nämlich nicht durch adrenalin-, testosteron- oder kokaingesteuerte Höhenflüge und Abstürze, die sich trotz allem einer dionysischen Lust am Leben erfreuen, sondern durch ein zutiefst melancholisches, einsames und im Grunde biederes Leben an den Schalthebeln der organisierten Kriminalität, in dem Gewalthandlungen keine karthatischen Entladungen brodelnder Emotion darstellen, sondern vielmehr zu kalt und geschäftsmäßig ausgeführten Gewohnheitshandlungen verkommen sind. Kein Glitzer, kein Glamour, kein Cash (wie in “Good Fellas” oder “Casino”), sondern eine traurige Existenz in tiefer Einsamkeit, angetrieben wahlweise durch Hybris, falsche Loyalität oder schlichtes Pflichtgefühl.
Im Zentrum dieser grauen Welt lebt “Irishman” Frank Sheeran (de Niro), der als einfacher Trucker beginnt, und vom lokalen Mafia-Boss Russel Bufalino (Joe Pesci) als “Mann für’s Grobe” angeheuert wird. Frank denkt nicht lange nach, macht seinen Job gut, so gut, dass ihn Bufalino an Jimmy Hoffa (Al Pacino) vermittelt, den berüchtigten amerikanischen Gewerkschaftsführer, der sich so gut wie überall Feinde gemacht hat, und einen loyalen Gefährten wie Frank an seiner Seite gut brauchen kann. “I heard you paint houses?” ist die zentrale Phrase im Bewerbungs-Telefonat zwischen Hoffa und Sheeran – und damit ist natürlich nicht die Maler-Streicher-Tätigkeit gemeint. Sheeran macht den Schritt vom einfachen Lastentransporteur zum Kleinkriminellen zur rechten Hand eines der mächtigsten Männer in den USA der Nachkriegszeit, und die Liste der von ihm “gestrichenen” Häuser wird immer länger.
Sheeran befindet sich mit seiner Loyalität stets zwischen seinen beiden Auftraggebern Bufalino und Hoffa, bis die Mafia genug hat vom zunehmend egomanischen Treiben des Gewerkschaftsführers, und eine folgenschwere Entscheidung “von ganz oben” getroffen wird: Jimmy Hoffa muss weg. “The Irishman” zeichnet nun diese Jahrzehnte aus der Sicht Frank Sheerans in Rückblenden nach, und ergibt so ein detailreiches Fresko des Nachkriegs-Amerika.
Wie bereits oben angedeutet, ist “The Irishman” ein durchaus untypischer Scorsese-Film: Das Sujet mag vertraut wirken, die Machart, der stilistische Zugang sind über weite Strecken durchaus gewöhnungsbedürftig. Bereits mit seinem letzten Film “Silence” stellte der Regisseur langjährige Fans vor eine Herausforderung, war das zentrale Merkmal der Inszenierung doch extreme Langsamkeit und Verharren in der “Stille”, völlig konträr zu vielen seiner anderen Werke davor. Auch “The Irishman” wählt diesen Zugang – wenngleich nicht in der Extreme wie sein Vorgänger – als wolle Scorsese einen bewussten Kontrapunkt setzen zum immer schnelleren Effektkino, aber auch zur “Streaming-Mentalität” (nebenbei schauen, während am Smartphone oder sonstwie aktiv): Der Film fordert volle Aufmerksamkeit, und zwingt einen geradezu, sich darauf einzulassen. (Ähnliches ließ sich bereits bei Tarantinos letztem Film “Once Upon A Time In Hollywood…” feststellen, der ebenfalls deutlich entschleunigter daherkam als seine Vorgänger.)
Dass das bei 210 Minuten Laufzeit nicht immer ganz einfach ist, sollte klar sein, und tatsächlich hat man ab und an das Gefühl, 30 Minuten oder gar 1 Stunde weniger hätten es auch getan. Andererseits gleicht “The Irishman” einer filmischen Reise, deren Weg das Ziel ist und deren Sinn sich dem Zuschauer erst am Ende vollends erschließt, weshalb es aus Sicht des Filmemachers durchaus nachvollziehbar ist, hier keine Konzessionen eingegangen zu sein.
Schauspielerisch bewegen sich die 3 Hauptdarsteller Pesci, de Niro und Pacino auf hohem Niveau. Während sich Pescis Zugang vor allem durch höchste Präzision auszeichnet, punktet de Niro durch eine über weite Strecken extrem reduzierte und zurückgenommene Performance, die erst gegen Ende einen emotionalen und berührenden Anstrich bekommt. Die darstellerische Meisterleistung aber liefert Al Pacino als Jimmy Hoffa ab – er drehte zum ersten mal mit Scorsese -, der sein bekanntes Overacting zur vollen Entfaltung bringt. Der vielfach besprochene und angekündigte De-Aging-Effekt wirkt vor allem anfangs durchaus befremdlich und noch nicht ganz ausgefeilt, dass Charaktere, deren Gesichter sichtbar verjüngt wurden, dennoch mit den Körpern von Über-70-Jährigen herumlaufen, trägt zusätzlich zur Irritation bei; insgesamt wirken sich die vorhandenen Schwächen der neuen Technik aber nicht auf die Qualität des Films aus. Eine “cineastische Revolution” hat man damit aber wohl auch nicht ausgelöst.
Wer bis zum Ende (und zum mit wunderbarer Musik von Robbie Robertson und Van Morrison unterlegten Abspann) durchhält, wird schlussendlich belohnt: Erst dann wird verständlich, worauf Scorsese die 3 Stunden davor hingearbeitet hatte. Ein gebrochener, einsamer Frank Sheeran sitzt in seinem Zimmer im Altersheim, losgelöst von seiner Umwelt, verlassen von seiner Familie, geplagt von Gewissensbissen, Reue und dennoch unfähig, seine Empfindungen in Worte zu packen. Insofern ist “The Irishman” (auch) ein melancholischer Abgesang auf ein ganzes Genre geworden, auf das in Film und Literatur oft glorifizierte “Gangsterleben” voller Aufregung und Adrenalinschüben und Exzessen; mit Frank Sheeran möchte man zu keinem Zeitpunkt tauschen, nicht zu seiner aktiven Zeit, und schon gar nicht danach, denn, so lautet die unmissverständliche Message: Ein von kühlen Machtinteressen und andauernder Gewalt geprägtes Leben führt unweigerlich in den (persönlichen) Abgrund, eine mit Eis vergletscherte emotionale Hölle, – oder in den Tod. Es ist abermals Scorseses humanstischem Zugang und der Performance von Robert de Niro zu verdanken, dass man trotz allem in der Lage ist, Mitleid und Mitgefühl mit Sheeran zu empfinden, und seine inneren Konflikte aus nächster Nähe greifbar werden. Und hier wäre dann auch der Anknüpfungspunkt zu den anderen Großtaten des Gespanns Scorsese-de Niro zu finden.
Fazit:
Fordernd, sperrig, minimalistisch, melancholisch: Scorsese macht es einem über weite Strecken nicht leicht mit seinem “Irishman”, der sich stilistisch irgendwo zwischen “Mean Streets”, “Good Fellas” und “Silence” einordnet. Doch wer durchhält, wird belohnt: Mit darstellerischen Glanzpunkten und einem berührenden wie erkenntnisreichen Finale, das die Talente und die Kino-Kunst des Meisterregisseurs subsumiert. Keine leichte Kost, aber einer der Filme des Jahres.
Bewertung
9 von 10 Punkten
“The Irishman” ist ab 15.11. in ausgewählten Kinos und ab 27.11. auf Netflix zu sehen.
Bilder: Netflix / Filmladen