Jedes Jahr ab November beginnt für Filmkritiker, Brancheninsider, Cineasten und alle anderen Filmverrückten die „heißeste“ Zeit des Jahres: Die Award-Season. Vor allem US-amerikanische Filmpreise rücken in den Fokus des Interesses aller Interessierten diesseits und jenseits des Atlantik, jede neue Preisvergabe oder Nominierungs-Liste zieht einen Rattenschwanz nötiger und vor allem unnötiger Kommentare in (a)sozialen Medien nach sich, denn jede/r will es besser wissen und gewusst haben: Ein ähnliches Phänomen wie im Sport oder Fußball, wo es bekanntlich immer mehrere Millionen Teamchefs gibt.

Kommentar von Christian Klosz

Die bisherigen Awards und Award-Nominierungen (Golden Globes, Critic’s Choice Awards, AFI-Awards usw.) blieben ohne große Überraschungen, wobei sich sehrwohl Tendenzen ablesen lassen: 1. Die Award-Macher ließen sich überraschend wenig von momentanen Hypes anstecken; 2. Während „Joker“ in einigen Fällen schwächer als erwartet eingeschätzt wurde, wurde „Once upon a time…“ in fast allen Fällen sehr stark eingeschätzt; 3. Als Favorit kristallisiert sich – wenn man alle Awards im Querschnitt betrachtet – doch etwas überraschend Martin Scorseses Epos „The Irishman“ heraus; 4. Überhaupt setzt Netflix zum finalen Siegeszug an: Nachdem man im Vorjahr mit „Roma“ in die oberste Liga des „ernsthaften Filmemachens“ vorgestoßen war, hat man heuer mit „Irishman“ und „Marriage Story“ die zwei wohl heißesten Eisen im Feuer.

Ein (Aus)Blick auf die einzelnen Kategorien: Welche Filme werden bzw. sollen die Nase bei den großen Preisen – Globes & Oscars – vorne haben?

Bestes Drehbuch:

Favorit: Steven Zaillian für „Irishman“ bzw. Noah Baumbach für „Marriage Story“. Wer gewinnen soll: Noah Baumbach bzw. Bong Joon-Ho für „Parasite“

Beste Kamera:

Favorit: Roger Deakins für „1917“ bzw. Rodgrigo Prieto für „Irishman“. Wer gewinnen soll: Jarin Blaschke für „The Lighthouse“

Beste Nebendarstellerin:

Favoritin: Laura Dern für „Marriage Story“ bzw. Jennifer Lopez für „Hustlers“. Wer gewinnen soll: Laura Dern

Bester Nebendarsteller:

Favorit: Joe Pesci für „Irishman“ bzw. Brad Pitt für „Once upon a time…“. Wer gewinnen soll: Joe Pesci

Beste Hauptdarstellerin:

Favoritin: Awkwafina für „Farewell“ bzw. Rene Zellweger für „Judy“. Wer gewinnen soll: Emma Thompson für „Late Night“

Bester Hauptdarsteller:

Favorit: Adam Driver für „Marriage Story“ bzw. Joaquin Phoenix für „Joker“. Wer gewinnen soll: Adam Driver bzw. Jonathan Pryce für „The Two Popes“

Beste Regie:

Favorit: Martin Scorsese für „Irishman“, Quentin Tarantino für „Once upon a time..“ und Bong Joon-Ho für „Parasite“. Wer gewinnen soll: Martin Scorsese oder Bong Joon-Ho

Bester Film:

Favorit: „The Irishman“, „Marriage Story“ und „Parasite“. Wer gewinnen soll: „Marriage Story“ oder „Parasite“.

Nun zeigt sich: In fast allen Hauptkategorien spielten Netflix-Produktionen mit, oder haben gar die Nase vorn. Warum ist das so? Das ist relativ leicht mit dem momentanen Zustand der Filmlandschaft erklärbar, und hat auch einiges zu tun mit der „Marvel-Kritik“ von Scorsese: FilmemacherInnen mit originären Geschichten finden unter den momentanen Produktionsbedingungen in Hollywood weder das nötige Geld, noch die nötige kreative Freiheit, ihre Projekte umzusetzen. Wenngleich viele von ihnen dem Phänomen „Streaming“ eher kritisch gegenüberstehen, entscheiden sie sich FÜR kreative Kontrolle, die Netflix seinen Regisseuren derzeit bietet, und gegen Geld und Kompromisse von und mit den großen Filmstudios. Für Cineasten nun, oder für das Publikum überhaupt, hat das ganze den angenehmen Nebeneffekt, dass weiterhin eigenständige und kreative Filme abseits der Superhelden-Franchises und des Blockbuster-Einheitsbreis möglich sind – und Netflix diese vermehrt auch (wenngleich limitiert) in den Kinos zeigt bzw. zeigen lässt.