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Filme gegen die Krise: Tipps der Diagonale-Leitung

Diagonale

Nachdem wir kürzlich Teil 1 unserer „Filmtipps gegen die Corona-Depression“ präsentiert haben (u.a. mit Empfehlungen von Verena Altenberger, Cornelius Obonya und Caroline Peters), folgen nun in Teil 2 die beiden Diagonale-Chefs Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger. Die „analoge Diagonale“ musste heuer ja aufgrund der „Corona-Situation“ abgesagt werden, ein Teil des Festivals findet aber derzeit und noch bis Ende des Monats auf der VOD-Plattform Flimmit (und anderen) statt – die Highlights des Programms haben wir hier zusammengefasst.

Wer damit nicht genug hat, für die/den hat das Intendantenduo 6 Filmtipps parat. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei den beiden für ihre Mitwirkung bedanken!

Sebastian Höglinger

Sebastian Höglinger

„Chappie“ (Neill Blomkamp, USA 2015)

„Ein unterschätztes Pop-Juwel voll lustvoller Referenzen, gleichermaßen unterhaltend wie intelligent. Entgegen der tendenziellen Ablehnung von Kritik und Kinopublikum ist Chappie genau das Richtige für unentschlossene Streamingtage: Artificial Intelligence in Form von Roboter-Polizei-Squads trifft auf Johannesburger Gangster, u. a. verkörpert vom überdrehten südafrikanischen Rap-Duo Die Antwoord (Ninja und ¥o-Landi Vi$$er). Als weitere musikalische Fußnote muss der sensationelle Brachialsoundtrack von Hans Zimmer genannt werden. Ablenkung vom Covid-Alltag garantiert!“

„Low Definition Control – Malfunctions #0“ (Michael Palm, AT 2011)

„Vielleicht der Film zur Stunde: ein grandioser Essay über den öffentlichen Raum als Risikobereich und das Phänomen Generalverdacht. Nicht nur in Zeiten von Corona scheint jeder und jede verdächtig – der potenzielle Feind (oder Virus) lauert überall. Wie beeinflussen uns Überwachungsbilder bzw. technologisierte Blicke in Alltag, Medizin und Kriminalistik? Palm folgt dieser Frage im Dazwischen von Science und Fiction.“

„Lazzaro Felice“ (Alice Rohrwacher, IT/CH/FR/DE 2018)

„Mehr Kino geht kaum. Selten habe ich diesen wundervollen, schon jetzt so schmerzlich fehlenden Ort glücklicher verlassen als nach dem Abspann von Lazzaro Felice. Dieser Film ist Poesie, Magie, Kunst. Und dabei so fesselnd, wie ein Roman, der sich nicht weglegen lässt, der verschlungen werden will. Bei dem das Ende erreicht wird ohne jemals auf die Uhr zu sehen. Jede Zeit braucht Bilder und Geschichten wie diese. Verwirrende Zeiten wie die gegenwärtige vielleicht noch dringlicher!“

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Peter Schernhuber

Peter Schernhuber

„Cecil Taylor Ou La Decouverte Du Free Jazz“ (Luc Ferrari & Gérard Patris)

aus der Serie Les Grandes Répétitions | The Great Rehearsals (1965-1966)

„Eine Fernsehperle als Festivalentdeckung: Verbunden mit einem unvergesslichen Kinoerlebnis sah ich diesen Film im großen Saal des Stadttheater Wels im Hotel Greif, das auch für Konzerte und als Kino genutzt wurde. Der Musiker Christof Kurzmann zeichnete für das Programm des Welser Music Unlimited Festivals verantwortlich und ergänzte das Konzertangebot um einen Film: CECIL TAYLOR OU LA DECOUVERTE DU FREE JAZZ. Über mehrere Jahre haben Luc Ferrari & Gérard Patris Künstlern und Musikern beim Arbeiten und Denken zugesehen. Einer davon: der Pianist und Komponist Cecil Taylor, inszeniert in betörendem Licht, mal solo, dann wieder mit Musiker-Kollegen. Interview-Passagen, Musik und das architektonisch beeindruckende Setting greifen ineinander und geben dem Film eine einzigartige Atmosphäre. Ein Film als Konzert, ein Konzert als Film.“

„Einschlafgeschichten“ (Harun Farocki, DE 1977/1978)

„Die Duisburger Filmwoche zeigte letzten Herbst verdienstvollerweise eine ganze Reihe der wunderbaren poetischen Film-Miniaturen, die Harun Farocki für kleine Filmfans gemacht hat. „Einschlafgeschichten“ sind die Episoden-Filme überschrieben, entstanden Ende der 1970er Jahre. Kleine filmische Träumereien und Fantasien, als könne man die Bilder des inneren Auges in den kurzen Augenblicken vor dem Einschlafen abfilmen. Bedauernswerterweise sind diese Filmchen mit vielversprechenden Titeln wie Katze III, Bahnen oder Baggerlied derzeit nicht verfügbar.“

„A Bookshelf On Top Of The Sky – 12 Stories About John Zorn“ (Claudia Heuermann, DE 2002)

„Ein unmöglicher Dokumentarfilm im besten Sinn! Dissidenz und beste Unterhaltung auf der Leinwand und vor allem in den Boxen! – Einen Film über John Zorn zu machen bedeuten gleichsam, einen Film mit dem einzigartigen New Yorker Saxofonistin, Komponisten und Arrangeur zu machen. Zum einen, weil Zorn und sein genre- und epochendurchdringender, musikalisch-eklektizistischer Kosmos nur schwer filmisch fassbar sind, zum anderen, weil überall dort, wo Filmbilder auf Zorns Musik treffen, etwas Neues entsteht. Weniger in einem gemeinen, trivialen Sinn wie das immer bei der Zusammenkunft von Bild und Ton der Fall ist, als in einem sinnlichen, beseelten, poetischen, ja magischen Sinn.

Besonders deutlich wird dies an jener Stelle, in der ein Film im Film auftaucht: Eingebettet in A BOOKSHELF ON TOP OF THE SKY taucht plötzlich die kleine Miniatur Buried Secret auf, in der Heuermann Stadtbilder von New York mit der Musik John Zorns verschaltet und sich Bild und Ton in städtischem Vogelgezwitscher auflösen. Ein wahrhaftiger Kino-Moment, wie er sich auch in einem österreichischen Dokumentarfilm wiederfindet, für den ebenfalls John Zorn den Soundtrack komponiert hat: „Notes on Marie Menken“ (2006) von Martina Kudláček. Darin zitiert Kudláček einen Film der US-Avantgarde-Pionierin Menken selbst: „Arabesque for Kenneth Anger“ (1958-61). Menkens Kamera tänzelt über die Gemäuer der südspanischen Alhambra, während John Zorn den Original-Sound Teji Itos neu interpretiert und „remixed“. Plötzlich ist auch hier ein neuer Film im Film. Ein neues Kino-Erlebnis. Staunen! Bei John Zorn führt eines (häufig sprunghaft und nicht linear) zum anderen – ob im Konzertsaal oder eben im Kino. In ihrem Versuch, eine filmische Form für ihren Dialog mit John Zorn und seiner Radical Jewish Culture zu finden, kann Claudia Heuermann daher nur scheitern und ist deshalb auch immer wieder auf ihre eigene Rolle als Filmemacherin zurückzugeworfen. Diese reflektiert sie dann auch offenherzig in ihrem, im besten Sinn eigenwilligen, formal nach den frühen 00er Jahren riechenden Film. Und der Film tut das, was gute Musik-Dokumentarfilme ausmacht: er gibt Raum zum Zuhören und entwickelt dabei eine eigene filmische Form. Einmal John Zorn gehört, nie wieder losgekommen, so ging es mir.

Der Film wie auch einige der Soundtracks sind auf John Zorns Label Tzadik Records in der Reihe „Filmworks“ auf CD erschienen und ebenso wie der Film selbst über die New Yorker Downtown Music Gallery online bestellbar.

Im österreichischen Film haben Musik, Sound und Klang John Zorns noch weitere Spuren hinterlassen: zwei Nummern von Zorns Bandprojekt Naked City tauchen beispielsweise in Michael Hanekes „Funny Games“ (1997) auf. Für Michael Glawogger („Workingman’s Death“, 2005) und wie erwähnt Martina Kudláček („Notes on Marie Menken“, 2006 und „In the Mirror of Maya Deren“, 2001) hat Zorn ebenfalls Soundtracks geschrieben.“


Info: Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber leiten als Duo seit 2015 die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, die jährlich in Graz stattfindet, und der wohl wichtigste „Ausstellungsraum“ für den Österreich-Film ist. Die beiden Intendanten möchten mit einer Frischzellenkur für das renommierte Festival einerseits auf eine weitere Internationalisierung zielen, andererseits vermehrt spartenübergreifend agieren und die Spitze sowie Breite der österreichischen Filmbranche in Graz versammeln.

Bilder: (c) Natascha Unkart

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