von Christian Klosz

Über die Premiere von „DAU. Natasha“ bei der Berlinale 2020 wurde hier bereits berichtet, ein ausführlicher Text zum 6-Stunden-Mammutwerk „DAU. Degeneration“ lässt sich hier nachlesen. Doch inzwischen wurden bereits 3 weitere Filme aus Ilya Khrzhanovskys Mega-Kunstprojekt auf der hauseigenen Streaming-Plattform veröffentlicht, ein weiterer feierte seine Online-„Vorpremiere“ (ist aber derzeit noch nicht als VOD verfügbar). Während alle Filme überzeugen konnten, lässt sich der bisher kürzeste der 5 zugänglichen Filme, das im Vergleich zu den anderen ruhige Kammerspiel „DAU. Nora Mother“, als stilles Highlight bezeichnen.

„DAU. Nora Mother“ erzählt von einem dreitägigen Besuch von Noras Mutter am Institut; Nora is Daus Ehefrau, die beiden haben einen jungen Sohn, befinden sich aber in einer konstanten Ehekrise. Nora lädt ihre Mutter zum ersten Mal nach der Hochzeit zu sich ein, um sie ihr neues Leben begutachten zu lassen, aber auch als moralische Unterstützung im nicht immer einfachen Alltag mit Dau, der oft seltsam abwesend scheint, wenig interessiert, gelangweilt und in Gedanken versunken. Noras Mutter merkt vom ersten Moment an, dass hier nicht das blühende Leben herrscht, sondern dass sich die beiden irgendwie arrangiert haben, und gemeinsam nebeneinanderher leben. Bald wirft sie ihrer Tochter vor: Du verhältst dich wie seine Dienerin! Er behandelt dich respektlos! Er liebt dich nicht! Du musst etwas ändern! – und schlägt ihr durch die Blume vor, ihren Ehemann, das Genie, den berühmten Wissenschaftler, zu verlassen.

Nora kämpft mit sich und ihren Gefühlen: Einmal sagt sie, sie liebe ihn doch, dann wieder, dass sie gar nichts für ihn empfinde; vor allem aber möchte sie ihrem kleinen Sohn Denis das selbe Schicksal ersparen, das ihr als kleines Mädchen widerfahren war, und das sie immer noch als unverarbeitetes Trauma, als dunklen Schatten in sich trägt: Ihre Mutter hatte ihren Vater verlassen, als Nora noch ein Kind war, sie wurde von ihr alleine aufgezogen und musste ohne Vater aufwachsen. Danach entspinnt sich in „DAU. Nora Mother“ ein intensives, großartig gespieltes Kammerspiel, das von den beiden Protagonistinnen Radmila Schegoleva (Nora) und Lydia Shchegoleva (Mother) getragen wird, zweitere auch im echten Leben die Mutter der Hauptdarstellerin (ein weiteres Beispiel für die ständige Überlagerung von Realität und Fiktion, die das gesamte DAU-Universum kennzeichnet).

Weil man ohnehin nie genau weiß, was echt, gespielt, inszeniert oder improvisiert ist, kann man nur spekulieren: Die intensiven und tiefgründigen Gespräche zwischen Nora und Mutter wirken wie emotionale Improvisationen in einem abgesteckten, fiktiven Rahmen, die viele „echte“ Gefühle, mitunter auch reale Konflikte der Personen zulassen; eine extreme Form von method acting könnte man das Ganze auch nennen, bei dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen echtem Leben und Spiel bis an die äußersten Grenzen verschoben und ausgereizt werden, und so für die „Darsteller“ wie für das Publikum eine umso intensivere Erfahrung bietet.

Bemerkenswert ist – ganz anders als in „DAU. Natasha“ oder „DAU. Degeneration“ – die Kraft, die hier aus der Stille entsteht, und eine schwer problembehaftete Mutter-Tochter Beziehung porträtiert, die von Schuld, gegenseitigen Vorwürfen, aber auch großer Liebe gekennzeichnet ist. Für alle, denen stundenlange Sex- und Alkoholexzesse zu mühsam klingt (eine akkurate Beschreibung für „Natasha“ und „Degeneration“), ist „DAU. Nora Mother“ die passende Einstiegsdroge in diese faszinierende Film- und Parallelwelt, mit der uns Regiegenie Ilya Khrzhanovsky beschenkt hat.

Bewertung

10 von 10 Punkten (95/100)

„DAU. Nora Mother“ lässt sich HIER um 3 $ erwerben.

Bild: (c) Phenomen Film