Atom Egoyans jüngstes Werk „Guest of Honour“ handelt von der Beziehung zwischen einem Vater und seiner Tochter – und von den Schuldgefühlen und verdrängten Traumata, die diese Beziehung belasten. Die Geschichte der beiden erzählt Egoyan als narrativ verschachtelten Mix aus Drama und Thriller, schafft es aber nicht, dem Geschehen den Tiefgang zu verleihen, den man sich wünschen würde.
von Paul Kunz
Zu Beginn des Films ist Protagonist Jim (David Thewlis) bereits verstorben. Wir steigen in die Handlung ein als seine erwachsene Tochter Veronica (Laysla De Oliveira) ein Gespräch mit dem Priester führt, der die Bestattung durchführen soll. Zu diesem Zweck möchte er mehr darüber erfahren, was für ein Mensch Jim gewesen ist. Veronicas Beschreibung folgen Rückblenden über das Leben ihres Vaters, der als pingeliger, aber keineswegs herzloser Gesundheitsinspektor über Fortbestehen und Schließung von Restaurants entschied. Während dieser Zeit war Veronica für ein Vergehen im Gefängnis, dessen Natur in weiteren Rückblenden offenbart wird, die bis in ihre Kindheit zurückreichen und die Ursprünge der verhängnisvollen Geschehnisse offenbaren.
Die komplexe narrative Struktur gelingt Egoyan, der nicht nur Regie führte, sondern auch das Drehbuch schrieb, hervorragend. Nicht nur weiß man stets in welcher Zeitlinie sich die Figuren gerade befinden, die Wechsel zwischen den verschiedenen Rückblenden fühlen sich auch immer motiviert an und werden durch das Gespräch zwischen Veronica und dem Priester sinnvoll gerahmt. Nur selten führen die Zeit- und Perspektivenwechsel dazu, dass das Publikum gegenüber den Figuren signifikante Wissensvorsprünge hat. Eine Szene etwa, in der Jim einen Musikschüler von Veronica erpresst, verliert jede Spannung, da dem Publikum die Information, die Jim wissen möchte, bereits lange bekannt ist.

Und auch wenn „Guest of Honour“ die meiste Zeit Spannung zu erzeugen weiß, bleibt er zur Enttäuschung seiner Betrachter außerordentlich emotionsarm. Das liegt insbesondere daran, dass die Figuren zumeist an jeder Realität vorbeiagieren und die Situationen, in die sie geraten, dementsprechend konstruiert wirken. Das trifft Jim weniger als das gesamte Melodram rund um Veronica, denn dort fühlt man sich ob der entsetzlich dummen und übertriebenen Entscheidungen, die sie und die Figuren um sie herum treffen, vor den Kopf gestoßen. Weil Veronica den Schulbusfahrer Mike verschmäht, stiehlt dieser prompt ihr Smartphone um anzügliche Nachrichten an einen Schüler zu verschicken. Wer das noch glauben kann, steigt spätestens dann aus, als sie aus Rache vortäuscht, Sex mit besagtem Schüler zu haben. Und wenn die Grundsteine für das sich entfaltende Drama nicht glaubwürdig gelegt wurden, bleibt viel Potenzial für Emotion auf der Strecke. Ein Fehler, der das Vergnügen eines Films, der die berührende Studie einer Vater-Tochter-Beziehung hätte werden können, enorm schmälert.
Laysla De Oliveira starkes, weil angemessen überzeichnetes Spiel federt einen kleinen Teil des Schadens ab, den ihre Figur erleidet. Die Fehler im Drehbuch kann sie aber nicht komplett ausgleichen. Weitaus mehr Freude bereitet David Thewlis als Jim, der zum Highlight des Films avanciert. Gleich, was er tut, sein Schauspiel ist von stiller Einsamkeit und tief unterdrückter Traurigkeit durchzogen, die zu berühren weiß. Man könnte ihm ewig dabei zusehen, wie er detailversessen Restaurants inspiziert und in spitzfindiger Regelkonformität auf Mängel hinweist, um die lächerliche Macht auszuüben, die ihm zur Verfügung steht: über die Schließung eines Restaurant zu richten.

Fazit
„Guest of Honour“ lässt in ansprechender Form die Geheimnisse seiner Protagonisten zutage treten. Das ist zu keinem Zeitpunkt langweilig, aber die Geschichte verlangt von seinen Figuren einige absurde Entscheidungen, um zu funktionieren, was der Glaubwürdigkeit und der emotionalen Kraft des Films schadet. Denn egal wie groß die Enthüllungen sein mögen, letzten Endes geht wenig davon unter die Haut. Was der Film an Tiefgang zu bieten hat, stammt von einem fantastischen David Thewlis.
Bewertung
(56/100)
Bilder: (c) Filmladen