Kurz nach Halbzeit beim Slash-Festival in Wien: Die Stimmung ist trotz Corona-Maßnahmen und -Besorgnis gut, die Säle sind den Umständen entsprechend gut gefüllt. Die gesehenen Filme von Mittwoch bis Sonntag in Woche zwei werden folgend vorgestellt, während man die Filme von Freitag letzter Woche bis inkl. Dienstag dieser Woche in unserem Festival-Tagebuch, Teil 1 nachlesen kann (mit den bisherigen Highlights „Pelikanblut“ und „Come True“!). Viel Spaß beim Lesen!

von Christian Klosz

Tag 7: 23.9.

  • „Savage State“: 18:00, Filmcasino

Zu Zeiten des Bürgerkriegs: Eine wohlhabende, franko-amerikanische Familie in den US-Südstaaten sieht sich vermehrt von unkultiviertem Soldaten-Pöbel bedrängt, weshalb die Rückreise in die alte Heimat Europa angestrebt wird. Unter Leitung von Söldner-Cowboy Victor, der sich in Tochter Abigail verguckt (und umgekehrt) zieht man Richtung Küste, während sich eine Gaunerbande, angeführt von der gerissenen Gangstererbraut Billie, an die Fersen heftet. Regisseur David Perrault inszeniert seinen über weite Strecken durchaus klassischen Western als Slow-Burner mit wunderschönen(r) Aufnahmen und Ausstattung, der von so unterschiedlichen wie interessanten und glaubwürdigen Charakteren getragen wird (der wortkarge Victor, die schwarze Haushälterin Layla, die freiheitsliebende Abigail, Banditin Billie…), weshalb das allzu konstruierte und plumpe Ende doppelt negativ auffällt: Die lobenswerte feministische Note konnte folglich den Drehbuchentscheidungen offenbar nur so für alle deutlich und plakativ platziert werden, indem dramaturgisch unlogisch alle männlichen Charaktere getötet werden, damit sie eben tot sind, und die verbliebenen Frauen auf Pferden am Strand Richtung Sonnenaufgang reiten können. Enttäuschend ist das insbesondere deshalb, weil „Savage State“ davor äußerst subtil, klug und erwachsen mit den komplexen Beziehungsgeflechten zwischen Geschlechtern, Ethnien, Klassen und Rassen verfährt und sich so am Ende vor allem ins eigene Fleisch schneidet, da er auf kurzen und billigen Applaus setzt: Ein Ärgernis.

Rating: 74/100

Tag 8: 24.9.

  • „Becky“: 20:30, Filmcasino

Festival-Lowlight Nummer 2: Sinnlose Gewalt-Exzesse, Langeweile und inszenatorische Einfallslosigkeit kennzeichnen einen Film, dessen Cast (Joel McHale, Kevin James) noch das Spannendste ist. Aber auch das hölzerne Spiel des „Cummunity„-Stars und der King of Queens als König der US-Neonazis rettet „Becky“ nicht vor dem Absturz in die völlige cineatische Bedeutungslosigkeit. Da hilft es auch nicht, dass einer der beiden Regisseure seinen eigenen Film auf letterboxd mit den Worten „I made it, so I think it’s awesome“ und mit 5 Sternen versah (wie peinlich): Nihilistische Tristesse ohne Substanz, ohne Botschaft, ohne Seele, deren einziger, winziger Lichtblick Lulu Wilson als rachsüchtige Göre, die die Schnauze voll hat, ist.

Rating: 19/100

(c) Quiver Distr.
  • „Under your bed“: 23:00, Filmcasino

Fyodor Dostojewski beschreibt seinen Charakter in „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ als „Mensch, der es nicht einmal verstanden hat, ein Wurm zu werden“, als ein Nachtschattengewächs, das im Dunklen dahinvegetiert und sein unerfüllbares Verlangen hegt und pflegt; Naoto, der junge Mann in „Under your bed“, fühlt sich selbst als „Wurm“ und als Niemand, der unter Steinen kriecht, um sich dort zu verzehren – oder unter das Bett der unerreichbaren Geliebten Chihiro, die ihm zur Schulzeit als einzige Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Diese Obsession ist der einzige Lebensinhalt Naotos, doch seine Angebetete ist inzwischen verheiratet, mit einem grausamen Gewalttäter allerdings, der sie schlägt, sexuell vergewaltigt, erniedrigt – was unser junger Mann aus sicherer Distanz mit Fernrohr und Kamera beobachten kann/muss. Die Frage: Verlässt er seine doch bequeme Existenz im Schatten, um seiner Geliebten zu Hilfe zu kommen – und verliert damit womöglich sein liebgewonnenes Objekt (der Begierde) für immer?

Die japanische Regisseurin Mari Asato schuf einen interessanten, harten, aber in Momenten überraschend zarten Film, der sich (zum Glück) mit simplen schwarz-weiß-Kategorien nicht ordnen lässt: Naoto ist als Stalker ein in (Post-)metoo-Zeiten an sich auch als anti-moralisch zu brandmarkender Charakter, doch seine schwer neurotischen Anwandlungen speisen sich aus tiefer Unsicherheit und ehrlicher Affektion und tiefem Begehren, die aufgrund seiner psychischen Defizite keinen anderen Ausdruck finden. Chihiros Ehemann wiederum ist ein handfester Psychopath, dem man auch als Zuschauer nur das Schlimmste wünscht und dessen ekelhafte und abscheuliche Gewaltausbrüche von der Regisseurin in einer Direktheit und Explizitheit dargestellt werden, die zart Besaitete laut und mehrfach „Triggerwarnung!“ rufen wird lassen: Ein intensiver, ultra-realistischer Film, der am Ende für Offenheit und eine Vielfalt der Ausdrucksformen von Liebe plädiert und so trotz aller hässlicher Bilder tiefen Humanismus offenbart.

Rating: 79/100

Tag 10: 26.9.

  • „Rise of the Machine Girls“: 10:00, Filmcasino

Sinnlos blutige, chaotische und perverse Männerphantasie, wie sie nur aus Japan kommen kann: Zwei Waisenschwestern legen sich mit der lokalen Dharma-Familie an, die mit abgetrennten Körperteilen dealt. Während die eine der beiden entführt wird, montiert sich die andere ein Gewehr auf den abgetrennten Armstumpf und will Rache. Der Rest ist Blut, voyeuristische upskirt-Kameraperspektiven und feuernde Riesenbrüste, alles semiprofessionell bis talentfrei inszeniert und gefilmt, Handlung: Fehlanzeige. Und auch der Pubertierenden-Humor und die delirierenden Kampfszenen werden nach spätestens 20 Minuten eher langweilig. Eine Enttäuschung.

Rating: 35/100

  • „Das schaurige Haus“: 18:00, FilmcasinoWeltpremiere

Jugendhorror aus Österreich mit Kärntner Lokalkolorit: Regisseur Daniel Prochaska bastelt in seinem Spielfilmdebüt als Regisseur einen stimmigen, unterhaltsamen und witzigen Coming-of-Age-Streifen in bester „Stand by me“-Tradition inklusive schickem 80s-Retro-Soundtrack. Die Zielgruppe sind Jugendliche und jung gebliebene Erwachsene, die sich an die Detektivgeschichen ihrer Jugend (von „???“ bis „Knickerbocker-Bande“) nostalgisch erinnen möchten. Aber auch für sich genommen und rein filmisch funktioniert „Das schaurige Haus“ ausgezeichnet, die Dramaturgie ist schlüssig und vor allem die Jungdarstellerriege glänzt: Das Highlight ist Lars Bitterlich als kleiner Streber Fritz, der es faustdick hinter den Ohren hat und für eine Menge Lacher sorgt. Insgesamt ein gelungenes Projekt, denn clevere Jugendfilme gibt es nicht so viele – und umso begrüßenswerter ist, dass dieser hier aus Österreich kommt. (Ab 30.10. regulär im Kino)

Rating: 71/100


Digital gesehen:

„Amulet“

Ein Ex-Soldat landet in London und wird von einer Nonne in einem baufälligen Haus untergebracht, in dem eine Tochter mit ihrer Mutter lebt, die augenscheinlich am Dachboden vor sich hin vegetiert. Als sich Tomasz und seine junge Gastgeberin näher kommen, rücken auch Kriegstraumata und Gräuel der Vergangenheit immer näher in sein Bewusstsein, während das von Dämonen bessesene Haus (bzw. die Mutter) immer deutlicher auf sich aufmerksam macht. „Amulet“ ist ein seltsamer Film, der visuell überzeugt und über weite Strecken stimmig inszeniert ist, bevor er am Ende unlogische dramaturgische Haken schlägt und sich selbst in zu bemühten und überfrachteten Symbolismen verrennt. Und warum Soldat Tomasz erst voller Empathie als tragischer Charakter eingeführt wird, mit dem wir mitfühlen wollen, bis wir unser Bild von ihm im letzten Drittel völlig ändern sollen, weiß wohl auch nur die Regisseurin: Wild, chaotisch, nicht uninteressant, aber am Ende zu unausgegoren.

Rating: 60/100

Bilder: (c) Slash