Als einer der Wettbewerbsfilme ging „Wheel of Fortune and Fantasy“ letzte Woche ins Rennen um den Goldenen Bären bei der Berlinale 2021 und wurde schließlich mit dem Großen Preis der Jury prämiert. Wir trafen den japanischen Regisseur Ryūsuke Hamaguchi zum (virtuellen) Interview.

von Paul Kunz

Film plus Kritik: Guten Tag! Können Sie mir zu Beginn sagen, wie Wheel of Fortune and Fantasy entstanden ist? War von Beginn an klar, dass es sich um einen Episodenfilm handeln würde?

Ryūsuke Hamaguchi: Die Idee zum Film hatte ich ursprünglich wegen Éric Rohmer und einer Zufallsbegegnung mit seiner Schnittmeisterin Mary Stephen vor etwa drei Jahren: Sie erzählte mir damals, dass Rohmer das Format des Kurzfilms sehr schätzte. Die Verbindung dreier Episoden zu einem Film ist auch eine Anlehnung an seinen Film Rendezvous in Paris. Das war also eine sehr bewusste Entscheidung.

Ich habe darauf geachtet, die drei Episoden so zu gliedern, dass sie dem Publikum den Zugang erleichtern. Die erste Episode ist sehr leicht zugänglich und bietet somit eine Art Einführung in den Film. Dann folgt die zweite, düsterere Episode. Die dritte Episode schließlich erlaubt weitaus mehr Tiefgang und Komplexität. Es gibt außerdem noch vier weitere Episoden, die als Fortsetzung zu diesem Film zu verstehen sind. Ich wollte nämlich, ebenfalls als Anlehnung an Éric Rohmer filmisches Werk, eine Filmreihe drehen, die aus sieben Kurzfilmen besteht.

Film plus Kritik: Haben Sie Episode für Episode geschrieben oder haben Sie die Geschichten nebeneinander entwickelt?

Ryūsuke Hamaguchi: Die übergreifende Handlung hatte ich von Anfang an im Kopf. Zumindest einen groben Entwurf davon. Dann habe ich immer eine Episode pro Woche geschrieben und sie an Satoshi Takata, den Produzenten des Films, geschickt. Außer ein paar wenigen Anpassungen nach dem Location-Scouting gab es dann auch keine drastischen Änderungen mehr an der Handlung des Films.

Film plus Kritik: Ist die episodische Struktur, die ja das Leben dreier Menschen zeigt, die einander nie begegnen, etwas, was auch die zentrale Thematik von Zufallsbegegnungen unterstreicht?

Ryūsuke Hamaguchi: Wie Sie richtig sagen, stehen die drei Episoden für sich. Als ich aber das Drehbuch fertig geschrieben hatte und dabei war den Film zu drehen, gab es einen Moment des Entsetzens, als ich feststellte, dass ich womöglich dreimal die gleiche Geschichte geschrieben hatte – zumindest, was die Struktur betrifft.

Ein wiederkehrendes Motiv, das man im Film beobachten kann, ist der Wandel und die Bewegung der weiblichen Protagonistinnen. Sie bewegen sich von einem Ort zum anderen, sei es im Taxi, auf der Rolltreppe oder zu Fuß. Sie reisen, weil sie auf der Suche nach etwas sind. Das beginnt auf eine sehr oberflächliche, sozial geprägte Weise: Wenn die Figuren zu Beginn miteinander sprechen, dann aus Höflichkeit und Konvention. Aber mit Fortschritt der Handlung sieht man, wie diese Frauen einer Wahrheit über sich selbst näherkommen und diese auch ausdrücken können. Insofern sind die Episoden sehr stark miteinander verbunden. Aber ich denke, ich habe das unterbewusst gemacht.

Und wie Sie auch gesagt habe, ist ein zentrales Thema die Wirkkraft zufälliger Begegnungen. Für all diese Figuren hat es einen Zufall gebraucht, um ihr Leben zu ändern. Dieser Zufall war für sie eine Notwendigkeit.

Film plus Kritik: Die drei sehr unterschiedlichen Menschen, in deren Leben wir Einblick erhalten, sind allesamt Frauen. Erzählt der Film auch von einer dezidiert weiblichen Erfahrung?

Ryūsuke Hamaguchi: Das war keine bewusste Entscheidung. Zumindest ging es mir nicht darum, eine weibliche Geschichte per se erzählen. Mir ist erst im Nachhinein aufgefallen, dass es tatsächlich die Frauen sind, die Handlung des Films vorantreiben. Derzeit arbeite ich an einem Spielfilm namens „Drive My Car“, der sehr männlich geprägt ist. Womöglich habe ich also ganz unterbewusst als Gegenstück dazu einen weiblich dominierten Film gedreht.

Film plus Kritik: Ich mochte sehr, wie der Film Verschiebungen von Machtverhältnissen zeigt und wie er die dadurch entstehende Anspannung in Echtzeit ausspielen lässt. Gerade weil sich alle Episoden auf die ein oder andere Art um Romantik drehen, ist mir ein Zitat aus der ersten Episode dazu im Gedächtnis geblieben: „Sich wohl zu fühlen ist nicht dasselbe wie Romantik“. Hat die Aussage eine tiefere Bedeutung für Sie?

Ryūsuke Hamaguchi: Was ich Ihnen erzählen kann, ist, was meine Frau dazu gesagt hat, als sie den Film gesehen hat: „Genauso reden Mädchen untereinander! Das ist eine Konversation, die genauso passieren würde.“ Aber ich weiß selbst nicht, ob ich die Bedeutung der Aussage vollkommen verstehe.

Es kann sogar sein, dass mir diese Zeile gar nicht selbst eingefallen ist, sondern dass ich sie einmal aufgeschnappt habe. Die ganze Konversation, die in diesem Taxi stattfindet, beruht auf einem Gespräch, das ich in einem Café zufällig mitgehört haben. Zwei Frauen haben am Tisch nebenan miteinander gesprochen und daraus wurde der Dialog im Film. In diesem Sinne ist das Gespräch in dieser Szene ein Stück Realität vom Austausch zwischen Frauen, das ich durch meine Vorstellungskraft erweitert habe.

Film plus Kritik: Der Film ist generell sehr dialoglastig. Es gibt auch nur drei Szenen pro Episode, dennoch finde ich ihn extrem „filmisch“. Ich denke, das liegt sehr stark an der Kameraführung. Die frontal gefilmten Dialogszenen beispielsweise, bei denen die Schauspielerinnen direkt in die Kamera sehen, habe ich als sehr intensiv und radikal empfunden!

Ryūsuke Hamaguchi: Vielen Dank, dass Sie das sagen! Ich nehme das als Kompliment! Diese Technik wird immer wieder eingesetzt; wenn Sie also sagen, Sie haben das trotzdem als radikal empfunden, dann bedeutet das sicherlich etwas. Diese Momente im Film scheinen etwas Besonderes zu haben und darüber freue ich mich sehr!

Wir haben die Einstellungen, bei denen die Figuren direkt in die Kamera schauen, an bestimmten Kulminationspunkten eingesetzt – nämlich dann, wenn die Schauspielerinnen den Höhepunkt ihrer Konzentration erreichen. Vorab weiß man allerdings nie, wann das passieren wird. Deshalb haben wir zuerst mehrere Takes gemacht, um herauszufinden, wann dieser Zeitpunkt erreicht wird. Und dann haben wir den Schauspielerinnen genau zu diesem Zeitpunkt die Kamera direkt vors Gesicht gehalten. Das ist eigentlich eine sehr aufdringliche Sache! Wir hatten allerdings keine große Kamera-Crew, sondern nur eine einzige Kamerafrau, nämlich Yukiko Ioka. Sie hat eine sehr unaufdringliche Präsenz und zeigt außerdem große Achtung vor den Cast-Mitgliedern. Dank ihr war die Kamera weitaus weniger aufdringlich als sie es sonst sicherlich gewesen wäre. Das hat es uns ermöglicht diese Einstellungen auf diese Weise umzusetzen und bei der Kameraführung anzugelangen, wie sie im Film zu sehen ist.

Film plus Kritik: Wurde die Produktion des Films in irgendeiner Weise durch die aktuelle Pandemie beeinträchtigt?

Ryūsuke Hamaguchi: Nein, wir wurden kaum davon beeinträchtigt. Die ersten beiden Episoden konnten wir ohnehin drehen, noch bevor die Pandemie begann. Die dritte Episode haben wir dann während der Pandemie gedreht, doch da wir so eine kleine Crew gewesen sind, war es sehr leicht, auf Abstandsregeln zu achten. Insofern hatten wir keine Probleme. Größere Big-Budget-Produktionen haben ein viel größeres Risiko, da bei einer infizierten Person die ganze Produktion gestoppt werden muss, bis klar ist, dass sicher weitergedreht werden kann. Ich glaube, dass die Arbeit in sehr kleinen Teams ein Weg sein kann, um während der Pandemie sicher Filme drehen zu können. Denn auf diese Art ist man sehr krisenresistent.

Film plus Kritik: Herr Hamaguchi, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!

Das Interview fand am 5.3.2021 virtuell statt.

Bilder: © 2021 Neopa/Fictive bzw. © Ryogo Shioda