Wer das zweifelhafte Vergnügen hat viele seiner Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bestreiten, der weiß um die teils absurden Situationen, denen man sich dort gegenüber sieht. Egal ob lauthals telefonierende Mitmenschen, tropische Temperaturen im Hochsommer oder allerlei eklige Kunstwerke aus Essensresten und schlimmerem – alles kann, nichts muss. Oftmals avanciert man aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände auch direkt ungewollt zum Gesprächspartner Wildfremder, und genau dort beginnt die Handlung von „Die obskuren Geschichten eines Zugreisendenen“, den es nun zu besprechen gilt.

von Cliff Brockerhoff

Nachdem Helga ihren Mann dabei vorgefunden hat wie er seine eigenen Exkremente untersucht, blieb ihr als letzter Schritt nur noch die Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Das wahre Unheil erwartet sie jedoch erst auf der Rückfahrt nach Hause, denn im Zug trifft die Verlegerin auf Angel, einen dort angestellten Psychiater, der entgegen jeglicher Verpflichtungen zur Verschwiegenheit munter von seinen Patienten und ihren Lebensgeschichten erzählt. Was zuerst nach einem lockeren Schwatz zur Zeitüberbrückung anmutet, entpuppt sich schnell als narrativer Strudel, bei dem Helga nicht mehr weiß wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion liegt.

Der aufgeschlossene Zuschauer, den es für diesen Film ohne Zweifel braucht, sieht sich also von Anfang an dem sogenannten „unzuverlässigen Erzähler“ gegenüber. Nicht nur, dass Helgas Sitznachbar selbst einen sehr verschrobenen Eindruck macht, nein – der Umstand, dass dieser die zu Papier gebrachten Geschichten von paranoiden Menschen mit Persönlichkeitsstörungen zum Besten gibt, verstärkt den Effekt um ein vielfaches. Innerhalb der drei Episoden wechseln die Themen und Grundstimmungen schneller als die Passagiere im Zugabteil, und zwischen beherztem Lachen und angewiderter Abscheu liegen lediglich wenige Augenblicke. Eine feste Genrezuordnung ist dementsprechend unmöglich. Am ehesten erinnert das Regiedebüt von Aritz Moreno an einen schwarzhumorigen Ausflug ins Labyrinth, bei dem sich hinter jeder Ecke eine andere Obskurität verstecken könnte und man nie genau weiß, ob es auch wirklich einen Ausgang gibt.

Die Dinge, die auf der Suche danach gefunden werden, sind mitunter aber so verstörend, dass die Einordnung als schwarze Komödie auch nicht so recht passen will. Egal ob Prostitution, Kinderpornographie, Auswüchse toxischer Männlichkeit oder die Verstrickung in krude Verschwörungstheorien; Moreno schmeißt alles in einen Topf und entwickelt trotz der offensichtlichen Gegensätzlichkeiten eine homogene Einheit. Die Übergänge zwischen den klar definierten Abschnitten binnen des Werks sind überraschend fließend und fallen selten negativ auf. Die einzige Ausnahme bildet die dritte Episode, die mit dem Vorangegangenem nicht so recht mithalten kann und qualitativ leicht abfällt. Dass liegt im Endeffekt aber weniger daran, dass die Geschichte an sich langweilig oder gar gewöhnlich ist, sondern vielmehr an der Tatsache, dass die ersten Darstellungen so intensiv waren, dass es schwer war hier eine weitere Steigerung zu erzielen.

Und auch wenn die aufgegriffenen Motive in Inhalt und Eindruckskraft variieren mögen, eint sie doch der Konsens einer übergreifenden Zurschaustellung der menschlichen Psyche, beziehungsweise deren Abgründe. Alles fußt auf einer Entdeckungsreise in die Hirnwindungen, die sowohl erzählerisch als auch visuell mit dem Löffel erkundet werden. Die technische Inszenierung passt sich dieser befremdlichen Sonderbarkeit an, überrascht immer wieder mit kunstvollen Arrangements, unheilvollen Kamerafahrten und perspektivisch verzerrten Bildkompositionen. Es wirkt beinahe so als wenn wir dem Treiben durch einen Schleier beiwohnen, es voyeuristisch begutachten und uns den Niederungen des menschlichen Seins stellen. So wie es Psychiater tun wenn sie ihren Patienten lauschen. Nur, dass das Werk bis zum Ende hin nicht offenbart, wer auf welcher Seite des Raumes sitzt.

Fazit

Selten war ein Filmtitel passender als bei „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“. Wo in einem Moment noch der bitterböse Humor dominiert, folgt der emotionale Tiefschlag sogleich und gipfelt in kurven- und abwechslungsreichen Erzählungen, die sich zwar an der Endhaltestelle nicht alle nahtlos ineinanderfügen, sich bis dahin aber als unvorhersehbare Fahrt erweisen, die neben ihrem Unterhaltungswert vor allem eben eines sind: obskur, und nahezu ekelhaft unterhaltsam.

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

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Bilder: ©David Herranz

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