Als Bong Joon Ho letztes Jahr für „Parasite“ insgesamt vier Oscars verliehen bekam und damit Werke wie „Joker“ oder „The Irishmen“ mühelos in den Schatten stellte, kam diese Meldung für viele – ungeachtet der politischen Komponente der Academy Award – einem Erdrutsch gleich. Verglichen mit den prunkvollen Erzeugnissen aus der Traumfabrik Hollywood werden asiatische Filme oftmals noch als Nischenkino verortet. Dass fernöstliche Filmkunst aber durchaus zu unterhalten und überzeugen weiß, ist unter Cineasten jedoch schon lange kein Geheimnis mehr.
Im Gegensatz zu den oft sehr schematisch erzählten Blockbuster-Stories der amerikanisch geprägten Filmbranche positioniert sich das asiatische Kino oft eher in experimentellen Gefilden. Außergewöhnliche Geschichten, knallharte Action, grazile Inszenierungen oder die Verarbeitung von kulturellen Missständen sind keine Seltenheit und finden sich, abgesehen von der Action, auch in „Die Taschendiebin“ wieder, der zwar schon 2016 erschien, dem Großteil der Filmfans aber scheinbar verborgen blieb oder ihn abgeschreckt hat.

Wie „Parasite“ stammt auch dieser Film aus Südkorea, nur eben nicht aus der Feder von Bong Joon Ho, sondern aus der von Park Chan-Wook, dem Mann, der Kampfkunstfans einst mit seinem brutalen Epos „Oldboy“ in seinen Bann zog. Inhaltlich bewegt sich „Die Taschendiebin“ aber auf vollkommen anderem, ja fast konträrem Terrain und erzählt die Geschichte einer jungen Trickbetrügerin, die auf Geheiß eines Hochstaplers als Dienstmagd einer wohlhabenden Erbin installiert wird. Das Ziel der Unternehmung ist denkbar einfach: mit Hilfe der manipulativen Fähigkeiten soll die bedienstete Sook-he ihre Arbeitgeberin gefügig machen, sie von der Vermählung mit ihrem Onkel abringen und stattdessen dabei helfen, dass sich Hideko für eine Hochzeit mit Fujiwara, dem Ganoven, entscheidet. Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.
Denn „Die Taschendiebin“ entwickelt sich in eine gänzlich andere Richtung, als es nun vermutlich den Anschein erregt. In drei klar voneinander abgegrenzten Akten offenbart sich das Geschehen als eine vom Patriarchat dominierte, wendungsreiche, spannende und von Erotik aufgeladene Irrfahrt, die nicht davor zurückschreckt, die gesamte Handlung mehrfach über den Haufen zu werfen. Wir erleben keine klassische Erzählung im Sinne von Exposition, Hauptteil und Schluss, sondern werden mehrfach Zeuge ein und derselben Geschichte – nur eben jedes Mal durch andere Augen. So setzt sich das Gesehene nach und nach wie ein Puzzle zusammen, eröffnet mit jeder Minute eine neue Perspektive, ergründet mittels Vermengung unterschiedlicher Architektur- oder Kleidungsstile nebenbei das verschobene Machtgefüge und präsentiert sich als flammender Aufschrei nach feministischer Freiheit.
Dieser durchschallt mal flüsternd leise, mal ohrenbetäubend laut die wundervoll arrangierten Kompositionen, die stilvoll die Netzhäute der Zuschauerschaft umschmeicheln. Ob innerhalb der Gebäude oder außerhalb im weitläufigen Garten; alles ist bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, überzeugt mit kraftvollen Farben, bezaubernden Bildern und vielschichtigen Charakteren, die diese anmutig durchwandern. Chan-Wook nimmt sich viel Zeit für seine Figuren, beleuchtet die Vergangenheit, erklärt ihr Handeln und macht sie so zu nahbaren Ankerpunkten, die zwar in einer gänzlich anderen Kultur leben, deren Beweggründe, Sehnsüchte und Probleme uns aber trotzdem wohlbekannt sind. Das ist womöglich die größte Stärke des Films: obwohl die gesamte Inszenierung fremdartig wirkt und zeitlich vor rund 100 Jahren angesiedelt ist, schlägt der Südkoreaner die gesellschaftliche Brücke ins moderne Europa und kann damit beide Zielgruppen gleichermaßen begeistern.

Fazit
Park Chan-Wooks anreizender Ausflug in das Dramagenre ist von erhabener Schönheit, zärtlich erotisch und trotz beinahe zweieinhalb Stunden Laufzeit zu keiner Sekunde langweilig. „Die Taschendiebin“ raubt die Herzen seiner Betrachter in Windeseile, begeistert mit optischen Reizen soweit das Auge reicht, ist überraschend schlüpfrig und muss sich am Ende lediglich vorhalten lassen, dass er das Level des ersten Twists nicht halten kann und im letzten Drittel somit ein wenig erahnbar wird. Ansonsten eine traumhafte Reise, zu dessen Antritt jeder halbwegs Interessierte ermutigt werden sollte. Abrufbar auf Amazon Prime Video!
Bewertung
(87/100)
Der war gut, sowohl erzählerisch als auch (und insbesondere) visuell.