Die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs betrafen auch das US-Kino auf vielfältige Weise: Der Nationalsozialismus führte dazu, dass eine Vielzahl deutscher und österreichischer Filmschaffender aus ihren Heimatländern flüchten mussten. Für diese Filmemigranten, zu denen unter anderem Billy Wilder, Fritz Lang und Peter Lorre gehörten, war Hollywood ein denkbar attraktives Ziel: Nicht nur handelte es sich um die größte Filmindustrie der Welt, aufgrund des Aufkommens des sogenannten Anti-Nazi-Filmgenres gab es auch einen erhöhten Bedarf an deutschsprachigen Schauspieler/innen. Diese Filme erfüllten einen wichtigen propagandistischen Zweck, da sie der US-Bevölkerung die Schrecken des Nazi-Regimes zeigten und dadurch die Notwendigkeit eines Krieges begreifbar machten.
von Paul Kunz
Wer einen Blick auf die Überschrift geworfen hat, mag sich nun denken: Na gut, aber was hat das mit Queer Coding zu tun? Und was ist Queer Coding überhaupt?
Der Begriff queer (engl.: seltsam, zweifelhaft) hat sich seit jeher einer eindeutigen Definition entzogen. Früher verwendet, um homosexuelle Personen abwertend zu beschreiben, haben sich Personen der LGBT-Community das Wort nach und nach angeeignet und wird heute weitgehend als wertneutrale Eigenbezeichnung verwendet. Im engeren Sinne ist queer also ein Schirmbegriff für unterschiedliche (sexuelle) Identitäten, die nicht einer heterosexuellen sozialen Norm entsprechen. Im breiteren Sinne beschreibt er all jenes, das sich von einer Vorstellung des „Normalen“ unterscheidet: das Andersartige, das Fremde. Und genau hier findet sich eine Schnittstelle zu Filmschaffenden im Exil.
Aber eins nach dem anderen: Denn um Queer Coding zu verstehen, ist auch der Begriff des Codings relevant. Hier lohnt sich ein Blick auf die Definition der beiden Literaturwissenschaftlerinnen Susan Lanser und Joan Radner: Sie definieren Coding als eine Reihe von Zeichen, die von Autor/innen genutzt werden können, um eine Aussage zu treffen, ohne diese explizit äußern zu müssen. Dadurch können Autor/innen es vermeiden, mögliche negative oder gar gefährliche Konsequenzen zu riskieren, die diese Aussagen mit sich brächten.
Im filmischen Kontext konnte der Production Code eine solche Konsequenz sein. Dabei handelt es sich um ein Zensursystem, das Hollywood in den 30er-Jahren etablierte und das bis zu seiner Abschaffung 1968 regelte, welche Filminhalte dargestellt werden konnten und welche nicht. Ein Verbot des Production Codes war das Zeigen von „sex perversion or any interference of it“, womit unter anderem die explizite Darstellung queerer, wie zum Beispiel homosexueller Figuren, im US-Kino ausgeschlossen war. Wollten Filmschaffende zu dieser Zeit also schwule, lesbische, homosexuelle oder kurz: queere Figuren darstellen, mussten sie den Production Code umgehen, indem sie auf stereotypisierende Darstellungen, auf Andeutungen – kurz: auf Queer Coding zurückgriffen.
Queere Filmbösewichte im Disney-Film
An dieser Stelle drängt sich ein Problem ins Bild. Denn es mag gut möglich sein, dass ich eine Figur aufgrund stereotypisierender Darstellungsweisen als schwul dekodiere – aber ob das von den Filmschaffenden auch tatsächlich so intendiert war, werde ich in den seltensten Fällen nachweisen können. Und wenn es um die Frage der Intention geht, stellt sich weiter die Frage, um wessen Intention es überhaupt geht? Ein Film ist immerhin meist ein Produkt kollektiver Bemühungen.
Womöglich handelt es sich bei manchen Coding-Prozessen also gar nicht um bewussten künstlerischen Ausdruck, sondern um eine zumindest teilweise Wiedergabe einer filmischen Konvention. Meredith Li-Vollmer und Mark KaPointe beschreiben in einem Artikel des Popular Communication Journals beispielsweise eine Konvention im Kinder-Animationsfilm, nach der die Filmbösewichte mit Eigenschafften ausgestattet werden, die soziale Geschlechternormen überschreiten und somit als queer codiert werden. Man denke hier an die Disney-Filme der 1990er Jahre: Das Design von Seehexe Ursula aus “Arielle, die Meerjungfrau” wurde an Drag Queen Divine angelehnt. “Pocahontas“-Schurke Governor Ratcliffe oder “Aladdins” Jafar fallen dagegen durch extravagante Mode und ein feminines Auftreten auf. Bedeutet das, dass in Disneys verrauchtem Hinterzimmer ein schnauzbartzwirbelnder, alter Hetero-Mann sitzt, der die homophobe Agenda pusht, indem er eine Vielzahl von Bösewichten mit stereotyp queeren Eigenschaften ausstattet? Natürlich nicht. Aber falls doch, macht er einen schlechten Job, denn die Disney-Bösewichte sind ziemlich cool.
In jedem Fall zeigt das kursorische Beispiel der Animationsfilm-Bösewichte die Komplexität von Coding-Prozessen im Medium Film und dass es unmöglich ist, festzustellen, in welchem Ausmaß sich die Filmschaffenden über die Facetten der auftretenden Coding-Prozesse und die damit einhergehenden Implikationen bewusst sind. Das Beispiel weist jedoch auch auf die Konvention des Queer Coding bei Bösewichten und Monstern hin. Denn damit wird implizit ein Zusammenhang von Queerness und Andersartigkeit mit moralischer Abartigkeit geschaffen – eine Verknüpfung, die in der heutigen Zeit weniger stark gegeben ist, aber in den 30ern und 40ern von höchster Relevanz war.
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Verweichlichte Europäer – Harte Amerikaner
In Monsters in the Closet: Homosexuality and the Horror Film legt Hary Benshoff nahe, dass diese Konvention der Verknüpfung von Queerness und Schurkentum häufig an die Nationalität insbesondere männlicher Filmfiguren gebunden war – und dadurch an die Schauspieler, die diese Filmbösewichte und -monster verkörperten: Wie bereits häufig behauptet wurde, waren beinah alle Monster und Schurken des Classical Hollywod Cinema Produkte des Auslands oder ausländischer Akteure und viele von ihnen spielen mit rassistischen Ängsten genauso wie mit homophoben und verschmelzen und verwischen deren stereotypischen Signifikanten.
Benshoff erklärt weiters, dass es zu dieser Zeit nicht unüblich für das US-amerikanische Filmpublikum war, das Ausland, und insbesondere Europa, mit sexuellem Verfall zu assoziieren. Es sei deswegen wenig überraschend, dass diese Rollen häufig mit Nicht-US-Amerikanern besetzt wurden. Es handelt sich um eine Stereotypisierung, die im Genre des Anti-Nazi-Films eine sehr explizite propagandistische Instrumentalisierung erfuhr: Als Gegenentwurf zu dem Konzept der christlich geprägten, liebenden Kleinfamilie des US-amerikanischen (Klein)Bürgertums wurden die meist von Exilschauspielern verkörperten Nazi-Schurken mit Promiskuität und sexueller Perversion, häufig Homosexualität, in Verbindung gebracht.
Die Nahelegung einer Verbindung von Queerness, US-Ausland und moralischer Abartigkeit beschränkte sich aber keineswegs nur das Genre des Anti-Nazi-Films. Die am häufigsten als Beispiel für Queer Coding angeführte und inzwischen berüchtigte Figur des Joel Cairo tritt etwa im Kriminalfilm “The Maltese Falcon” (1941) auf. Verkörpert wird Cairo von Peter Lorre, der in den 30ern aus Berlin in die USA flüchtete. Die Figur ist in der Romanvorlage des Films explizit homosexuell; ein Umstand, der aufgrund des Production Code nur durch eine stereotypisierte Darstellung möglich war: Cairo verfügt über eine gepflegte Erscheinung, er wirkt kultiviert, elegant und feminin, er gibt sich höflich und ist gewählt in seiner Ausdrucksweise.
Doch diese Eigenschaften sollten das US-Publikum der 40er nicht nur auf Cairos Homosexualität hinweisen: In Detecting Men: Masculinity and the Hollywood Detective Film erklärt Philippa Gates, dass es sich um Eigenschaften handelt, die häufig mit Europäern (oder Engländern) assoziiert wurden. Cairo repräsentiere damit ein Extrem und eine Konsequenz des europäischen Lebensstils: eine Verweiblichung der Männer. Damit ist Cairo eine geeignete Negativfolie für den von Humphrey Boghart verkörperten Filmprotagonisten Sam Spade. Gates beschreibt Spade als Musterbeispiel für den filmischen Stereotyp des hartgesottenen Privatdetektivs, der ein positives Modell US-amerikanischer Männlichkeit während des zweiten Weltkriegs liefert: Ein Männlichkeitsideal, das für Gerechtigkeit, Effizienz und Härte steht.
Fazit
Es zeigt sich, dass es zur Zeit des zweiten Weltkriegs einen Trend der Stereotypisierung im US-Kino gab, der Queerness und das Ausland ins gleiche negative Eck gestellt hat: fremd im Pass und fremd im Begehren. Queer Coding erfüllte also den Zweck, das europäische Ausland abzuwerten und das amerikanische Männlichkeitsideal dadurch stärker hervortreten zu lassen. Zugespitzt könnte man sagen: „Der heterosexuelle Amerikaner siegt über den perversen Ausländer.“ Ich darf in Erinnerung rufen: das war nicht unbedingt Intention, sondern einfach filmische Konvention.
Gut, das klingt jetzt alles sehr schlimm, aber was könnte das bedeuten, auch für die Gegenwart? Wenn zu einer Zeit, in der der US-Nationalstolz angekurbelt werden sollte und Männer dazu angeregt werden mussten, in den Krieg gegen die Nazis zu ziehen, der queere, feminine, perverse oder schwule Ausländer ein attraktives Feindbild war, dann erlaubt das umgekehrt Rückschlüsse über die Gesellschaft: das US-amerikanische Publikum dieser Zeit war eines, dass verstand, dass diese Eigenschaften nicht wünschenswert waren. Auch, weil sie im Kontext der eigenen Gesellschaft als nicht erstrebenswert galten oder tabuisiert wurden. Dieses Prinzip kann mit Behutsamkeit aus dem gegebenen historischen Kontext gehoben und auf andere Kontexte – zum Beispiel auf heute – angewandt werden. Und dann lässt sich fragen: wie werden filmische Bösewichte heute codiert? Welche Eigenschaften haben sie? Und warum?
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Titelbild aus: “Die Spur des Falken”, Peter Lorre
Quellenverzeichnis
Lanser, Susan S./Joan N. Radner, „The Feminist Voice. Strategies of Coding in Folklore and Literature“, In: The Journal of American Folklore 100, 398/1987, S.412-425.
LaPointe, Mark. E./Meredith Li-Vollheimer, „Gender Transgression and Villainy in Animated Film“, In: Popular Communication 2, 1/2003, S.89-109.
Benshoff, Harry M., Monsters in the Closet. Homosexuality and the Horror Film, Manchester: Manchester Univ. Press 1997.
Gates, Philippa, Detecting Men. Masculinity and the Hollywood Detective Film, Albany: State University of New York Press 1973.