Eine Kapsel, kaum größer als ein menschlicher Körper, darin eine Frau, eingewickelt in einen Kokon, die plötzlich erwacht, ohne zu wissen wo sie ist und wer sie ist: So beginnt „Oxygen“, ein Science Fiction-Thriller von Alexandre Aja („The Hills have eyes“, „Crawl“), der gestern seine Netflix-Premiere feierte. Es ist schwer, über diesen klaustrophobischen Film zu sprechen, der beinahe seine gesamte Laufzeit über in einem 2 mal 1 Meter großen Raum spielt, ohne zu viel von dem Rätsel preiszugeben, das das zentrale Element der Spannung ist – es soll trotzdem versucht werden.

von Christian Klosz

Die Hauptfigur von „Oxygen“ ist Omikron 267 oder jene oben erwähnte Frau, die mit bürgerlichem Namen Elisabeth Hansen heißt (gespielt von der Französin Melanie Laurent), wie sie nach Konversation mit der künstlichen Intelligenz MILO herausfindet, die die Aktivitäten in der Kapsel steuert und überwacht. Ihre Fragen nach ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit und auch nach dem Grund ihrer Anwesenheit in der Kapsel kann MILO nur stückweise und nach mehrfachem Nachhaken beantworten, doch langsam ergibt sich für Elisabeth ein klareres Bild: Nach Internet-Recherche und einem Telefonat (alles von der Kapsel aus möglich) weiß sie, dass sie sich im All befindet und dass sie selbst Forscherin ist. Was es mit der Kapsel auf sich hat, warum gerade sie dort festsitzt und was überhaupt der Zweck und das Ziel des Ganzen ist, bleibt ihr (und auch uns) vorerst verschlossen. Hinzu kommen wiederkehrende Gedankenintrusionen, Erinnerungsfetzen, aber auch Halluzinationen, die die Situation für Liz noch verwirrender machen. Und die minütlich sinkende Sauerstoffkonzentration in der Kapsel, die für zusätzlichen Zeitdruck sorgt – denn bei 0% ist man tot. Irgendetwas scheint trotz der fieberhaften Suche nach einem Ausweg und voranschreitender Erkenntnisse dennoch nicht zusammenzupassen: Warum kommt Elisabeth die Stimme der alten Frau so bekannt vor, die sie bei einem Anruf auf der Erde erreicht?

„Oxygen“ ist einer der ersten bereits veröffentlichten Filme, die komplett während der Corona-Zeit entstanden sind. Nicht umsonst spielt ein grassierendes Virus eine Hauptrolle im Hintergrundplot, nicht umsonst wurde (beinahe) der ganze Film mit nur einer Person an nur einem Ort gedreht. Gleichzeitig fallen diese merkbaren Aspekte und Einschränkungen nicht ins Gewicht, was die filmische Qualität betrifft, denn die ist hoch: Nach dem eher uninspirierten und platten Vorgänger „Crawl“ besinnt sich Regisseur Aja in „Oxygen“ wieder seiner inszenatorischen Stärken, dreht an der Spannungsschraube eines absurden und komplexen Plots, der sich trotz allem selbst nicht zu ernst nimmt und bei der Auflösung gar Ironie erkennen lässt, was den Film tonal wohltuend etwa von den eitlen Mindfucks eines Christopher Nolan (wie „Tenet“) abhebt.

Der Sci-Fi-Thriller lässt sich grob in 3 Teile gliedern: Zuerst werden wir – wie die Protagonistin – ins kalte Wasser geworfen, wissen nicht, was hier vor sich geht. Dieser erste Teil dient der Orientierung, der Etablierung des Settings und besteht vorrangig aus dem Suchen der Puzzleteile, die die Situation irgendwie erklären sollen. In Teil 2 wissen wir (und Liz) mehr darüber, wo wir sind und was hier los ist, sehen die Protagonistin mit einer tödlichen Gefahr (ausgehender Sauerstoff) konfrontiert und beobachten sie dabei, wie sie fieberhaft nach einem Ausweg, nach Rettung sucht. Tendenziell ist dieser Teil der schwächste, da er auch einige repetitive Sequenzen enthält, etwa wiederholte Wahnvorstellungen von Liz (Ratten in der Kapsel und ähnliches), die in erster Linie durch Effekte wirken wollen, aber teils doch etwas uninspiriert daherkommen. Der interessanteste und spannendste Teil ist eindeutig der dritte, der nicht nur die komplette und faszinierende Auflösung bietet (die hier natürlich nicht verraten wird), sondern auch in einem wahren Herzschlagfinale gipfelt. Das Highlight von „Oxygen“ ist sodann nicht das durchaus interessante Setting oder der titelgebende survival-Thrill, sondern die Story bzw. das Drehbuch von Christie LeBlanc, das seit Jahren in Hollywood herumgelegen hatte und bereits auf der Blacklist der besten nie verfilmten Ideen gelandet war, bevor sich Alexandre Aja dessen annahm.

Fazit:

Klug, spannend, unterhaltsam und komplex: Der französische Horror-Experte Alexandre Aja bastelt aus einer genialen Drehbuchvorlage einen kleinen, aber feinen Indie-Thriller, der diverse Komponenten gekonnt miteinander vermengt und so ein Werk hervorbringt, das durchaus das Potential zum Kultfilm hat.

Bewertung:

Bewertung: 7 von 10.

(73/100)

„Oxygen“ ist seit 12.5.2021 auf Netflix zu sehen.

Bilder: (c) Netflix