Nach der Absage 2020 wurde das diesjährige Filmfestival in Cannes eine Veranstaltung mit ungewöhnlichen Schlagzeilen. Das neue Werk „Vortex“ vom Skandalregisseur Gaspar Noé ganz ohne Skandal, dafür persönlich und sentimental. Der zweite Film von Julia Ducournau „Titane“, der wie ihr Vorgänger „Raw“ sein Publikum schockierte, gewinnt völlig überraschend die Goldene Palme. Und Adam Driver besingt in Leos Carax „Annette“ während des Oralverkehrs Marion Cotilliards Intimbereich. Klingt so absurd wie geschmacklos, fügt sich aber in Anbetracht dessen, was der Franzose sonst noch für seine Rock-Pop-Oper visualisiert, nahtlos in eine unglaubliche Geschichte ein, die seine Zuschauer provoziert und kompromisslos spaltet. „Annette“ ist jedoch weniger ein Skandal als vielmehr ein experimentierfreudiges enresprengendes Musical, das sich kaum mit etwas anderem vergleichen lässt.

von Madeleine Eger

Der Stand-up Comedian Henry McHenry (Adam Driver) und die Opernsängerin Ann (Marion Cotillard) sind das Glamourpaar schlechthin. Nach Bekanntwerden der Liebe folgt die Heirat und Geburt der gemeinsame Tochter Annette. Ganz langsam jedoch fängt die harmonische und liebevolle Fassade an zu bröckeln. Angst beschleicht Ann, sie ahnt, dass mit Henry etwas nicht stimmt. Dessen Zerrissenheit, Selbstzweifel und tief versteckter Zorn bringt die Beziehung immer mehr ins Ungleichgewicht. Auch sieht sich der Performer mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und einer schwindenden Karriere. Henrys Neid und Wut bringen Ann letztendlich um, die schwört allerdings noch aus dem Jenseits Rache und belegt Baby Annette mit dem Fluch einer atemberaubenden Stimme.

Dass „Annette“ wirklich kein gewöhnliches Musical werden wird, machen der Regisseur, die Komponisten der Songs (die Band „Sparks“) und die Schauspieler schon in der beeindruckenden Anfangsszene klar. In diesen ersten Minuten spielen sie mit uns, fordern uns mit ihrer Ansprache regelrecht heraus und unterstreichen unsere Angst vor der Unberechenbarkeit von Carax neustem Film. Mit dem Text des Lieds „May we start“, dessen Takte und das Einstimmen der Instrumente mit visueller Raffinesse eingefangen werden, zeigt sich der Regisseur wie schon in seinem Vorgänger „Holy Motors“ selbstreferenziell und weicht die Realitätsgrenzen gleich mal komplett auf.

So geschieht es nämlich auch, dass Adam Driver, Marion Cotillard und Simon Helberg aus dem Musikstudio durch die Straßen von LA laufen und am Ende mit nur einem Schritt ihre Bühne betreten. „Annette“ mausert sich mit beharrlicher Kontinuität zu einem eindrucksvollen Werk, das das Verschmelzen von Realität und Fiktion, das Hineinschlüpfen in die Rollen und deren Welten bebildert. Aber genauso die Illusionsbrüche, mit denen Carax im Verlauf mehrfach den direkten Kontakt zu seinem Publikum sucht und damit kontinuierlich die gesamte Aufmerksamkeit einfordert, fließen fast spielerisch mit ein. Wenn beispielsweise Simon Helberg als Dirigent in einer unglaublich starken Szene seine verflossene Liebe und Affäre zu Ann Revue passieren lässt, ist es nicht gleich offensichtlich, dass der unter starrem Blick vorgetragene Monolog tatsächlich unmittelbar für uns bestimmt ist. Wir werden fast schon zu einem Eindringling, der keine Geheimnisse akzeptiert und die tiefsten Emotionen herauskitzeln will.


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Ganz ähnlich verhält es sich mit den beiden Hauptfiguren. Regelmäßig sehen wir uns als nahe Begleiter, als jemand Vertrautes, der das Geschehen ohne eigenen Kommentar in sich aufsaugen darf, um sich für die anbahnende Katastrophe zu wappnen. Denn Henry ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Die Selbstgefälligkeit, die Überheblichkeit und die Verachtung, mit der der Performer seinem willigen Publikum begegnet, lassen die Figur genauso unberechenbar werden wie den Film selbst. Adam Driver strahlt dabei eine enorme Präsenz aus, erscheint manchmal wie ein sich aufbäumendes Monster, gibt sich mit seiner strengen Dominanz aber dennoch oft nur sehr unnahbar und kühl. Ganz im Gegensatz zu Marion Cotillard, die die Eleganz einer Opernsängerin mitbringt, aber ebenso ihre aufkeimende Furcht und Verletzlichkeit präsentiert.

Die Konstellation und die versteckte Dreiecksbeziehung erinnert unweigerlich ein wenig an die Vampirromanze „Twilight“. Nicht zuletzt auch wegen des Settings, wo das Luxushaus abgeschieden im dichten und tief grünen Wald versteckt liegt und ebenso unnatürlich wie verzaubernd wirkt. Carax nutzt tatsächlich alle Möglichkeiten aus, lässt die Figuren in opulenten wie märchenhaften Theaterkulissen spielen, verortet die Handlung irgendwo in den Straßen von LA oder auf den Bühnen dieser Welt, auf die Annette vom erfolggetriebenen Henry gezwungen wird.

Den größten Clou des theatralischen und metaphorischen Musicalmix‘ ist aber zweifelsfrei „Annette“ selbst. Als das Mädchen geboren wird, überrascht der Regisseur mit einer derart ausgefallenen künstlerischen Entscheidung, dass man die dazu anklingende Liedzeile wörtlich nehmen kann. Denn das Kind, das später zum Spielball seiner Eltern wird, stammt wahrhaftig nicht aus dieser Realität. Ein sehr riskanter Schachzug, der die Gemüter auf die Probe stellt, für das Werk jedoch nur eine weitere Grenzüberschreitung zum inszenatorischen Meisterwerk darstellt.

Fazit

„Annette“ erweckt oft den Eindruck eines grotesken Fiebertraums, eines furchteinflößenden Märchens und magischen Musicals. Das metaphorische Autorenwerk entzieht sich dazu noch jeglichen Gesetze und Genregrenzen. Getragen von einem fantastischen Adam Driver und einer großartigen Marion Cotillard, ist „Annette“ fast schon ein cineastisches Wunder. Ein Film, an dem sich die Geister scheiden werden, der aber ziemlich sicher niemanden kalt lassen wird.

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

„Annette“ lief im Programm des Filmfest Hamburg und ist auch bei der Viennale in Wien (am 29.10.) zu sehen. Am 16.12. startet der Film regulär im Kino.

Bilder: (c) Detailfilm Gmbh