Nachdem der japanische Regisseur Shô Miyake mit seinem Film „And your bird can sing“ schon einmal bei der Berlinale vertreten war, ist das Werk „Small, slow but steady“ 2022 für den Wettbewerb in der Encounters Sektion ausgewählt worden. Inspiriert wurde der Filmemacher von dem autobiografischen Roman „Makenaide!“ von Keiko Ogasawara, einer ehemaligen Profiboxerin, die seit ihrer Geburt gehörlos ist. Miyake erarbeitet mit der Vorlage einen Film, der nicht nur ein Charakterporträt einer kleinen Frau mit großem Herz und Willensstärke ist, sondern auch ein zerbrechliches Bild einer Welt im Wandel.
von Madeleine Eger aus Berlin
Für die gehörlose Keiko (Yukino Kishii) ist der kleine Boxklub in Tokio das zweite Zuhause. Trotz der Herausforderung, sich ausschließlich auf ihr Sehvermögen verlassen zu müssen, hat die junge Frau bereits zwei bedeutsame Kämpfe für sich entscheiden können. Während der dritte wichtige Wettkampf schon auf sie wartet und mit Klubvorstand und ihrem größten Unterstützer Katsumi Sasaki (Tomokazu Miura) trainiert, bekommt es Keiko immer mehr mit der Angst zu tun. Die sich ausbreitende Pandemie, die bevorstehende Schließung des Boxklubs und die Krankheit ihres Trainers machen ihr zunehmend zu schaffen und lassen sie zweifeln, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg befindet.
In absoluter Stille sitzt die junge Frau an einem Brief. Sie wirkt unentschlossen. Das Warum lässt Regisseur Miyake zunächst unberührt. Stattdessen lässt er aus dem Dunkeln die Geräuschkulisse von Boxern hervorbrechen, die in einer kleinen Halle trainieren. Gedreht auf 16 mm Film erscheint „Small, slow but steady“ schon jetzt in einem gröberen Look und mit greifbarer Physis. Unterstreicht damit den harten körperlichen Sport, den Keiko so sehr liebt und der ihr als einzige Frau im Verein alles abfordert. Das jedoch mit Erfolg: 2019 hat sie ihren ersten Kampf nach nicht einmal 2 Minuten mit einem Knock-out gewonnen, wie uns kleine Textüberblendungen verraten. Keiko ist talentiert und gleicht ihre Beeinträchtigung mit einer hohen Auffassungsgabe und ihrem exzellenten Sehvermögen aus. Die folgende Trainingsszene, in der ihr Sasaki eine Abfolge von Schlagkombinationen zeigt und mit ihr in verschiedenen Kombinationen wiederholt, wirkt sogleich wie ein perfekt choreografierter Tanz. Rhythmisch, fast hypnotisch landen die Fäuste von Keiko in den Handschuhen ihres Trainers.
Was wunderschön anzusehen ist, offenbart zugleich, warum es für die junge Profiboxerin in dem Sport so schwierig ist. Wenn nämlich Gebärdensprache nicht möglich ist, muss das Whiteboard her oder Lippen gelesen werden. Während eines Kampfes, in dem harte Schläge auf sie einprasseln, kann sich die junge Frau also nicht auf ihre Trainer sondern nur auf sich, ihre Intuition und Konzentration verlassen. Statt ihr wichtiges Duell, bei dem sie auch ihre Mutter beeindrucken will, mit Intensität und Spannung zu unterfüttern, fokussiert sich Miyake vergleichsweise nüchtern auf seine Hauptdarstellerin und holt in den wenigen schwierigen Minuten das bröckelnde Selbstbewusstsein seiner Protagonistin hervor. So wirkt der Kampf tatsächlich etwas unbeholfen, kräftezehrend und entmutigend. Und das obwohl die junge Frau am Ende als Gewinnerin im Ring steht. Ein Siegerlächeln danach bleibt den Fotografen dann nicht nur wegen der Sprachbarriere, sondern auch wegen der Enttäuschung über die fehlende familiäre Anerkennung verwehrt.
Nicht erst jetzt zeigt sich „Small, slow but steady“ ist kein heroisches Underdog Sportspektakel, das mit großen Reden oder überdramatisierten Höhepunkten aufwartet. Die Stille in der Keiko lebt, ist auch im Film dominant und rückt Schauspiel von Yukino Kishii in den Vordergrund. Regisseur Miyake lässt dafür zusätzlich die verschiedensten Stilmittel in die Geschichte einfließen. Schwarze Zwischentitel sind hier nicht nur eine Anlehnung an die frühesten Stummfilme, sondern bebildern die Frustration, Angst und Wut der Frau. Wenn hingegen später eine ganze Passage eines Gesprächs für das Publikum nicht übersetzt wird, ihr aber ein Lächeln entlockt und sie ihre Anspannung verliert, merkt man, in der stilistischen Ausarbeitung steckt der Schlüssel zu Keikos Gefühlslagen und Gedanken. Da braucht es dann auch keine Übersetzung mehr, um den Augenblick der Gelassenheit, den sie erfährt, nachzuempfinden.
Es sind aber nicht nur die nahbaren privaten Momente, mit denen das Drama zu bestechen weiß. Vor allem die Verknüpfung zur aktuellen pandemischen Lage, die Sorgen schürte und nicht zuletzt auch dafür sorgte, dass sich das Stadtbild wegen Geschäftsaufgaben neu strukturiert, ruft ein vertrautes Gefühl der Ungewissheit hervor. Fast dokumentarisch wirken da die Szenen, wenn Keiko einsam durch die zeitweise leeren Straßen Tokios streift und sich in einer Art Isolation mit ihren Gedanken und Ängsten befindet. „Slow, small but steady“ mag ein ruhiger Film sein, der sich zuweilen mit seiner gleichförmigen Dramaturgie selbst im Weg steht und den Nebenfiguren sowie deren Beziehung zu Keiko zu wenig Tiefgang ermöglicht. Trotzdem erzählt der Regisseur auf sehr charmante Weise eine Geschichte vom Wiederentdecken der inneren Stärke.
Fazit
„Small, slow but steady“ greift auf einen ansprechenden Erzählmix zurück, der die Gehörlosigkeit und die Zerbrechlichkeit der Welt in ruhigen Bildern einfängt. Die behutsam beobachtete Charakterstudie erzählt eine nahbare Geschichte von Zweifeln und wieder auflebender Willenskraft, die vor allem durch die starke Protagonistin und die tänzerischen Rhythmik des Sports zum Ausdruck kommt.
Bewertung
(60/100)
Anm. der Redaktion: Wir stehen der Entscheidung der Berlinale, das Festival heuer als reine Präsenzveranstaltung und ohne Online-Option abzuhalten, kritisch gegenüber und berichten deshalb nicht in gewohntem Umfang aus Berlin. Unsere Korrespondentin Madeleine Eger, die in Berlin lebt, wird unsere Leser/innen in den kommenden 10 Tagen aber mit Berichten und Filmkritiken durch die Berlinale begleiten.
Bild: © 2022 « KEIKO ME WO SUMASETE » Production Committee & COMME DES CINEMAS