Wild und unberechenbar ist die Natur Islands. Gleichwohl geht von der Insel eine unglaubliche Faszination an dem ungezähmten Charakter und der mystischen Schönheit einher. Genau diese Ambivalenz findet sich auch in den Filmen von Regisseur Guðmundur Arnar Guðmundsson wieder. Der Isländer greift dafür Eindrücke der eigenen Jugend in den Vororten von Reykjavik auf und nach seinem Langfilmdebüt „Heartstone“ feierte „Beautiful Beings“ seine Premiere in der Panorama Sektion auf der diesjährigen Berlinale. Dort wurde das harte Jugenddrama jetzt mit dem Europa Cinemas Label Preis als bester europäischer Film ausgezeichnet.
von Madeleine Eger aus Berlin
Während „Heartstone“ die Entdeckung der ersten (homoerotischen) Liebe Zweier Jugendlicher erzählte, ist „Albtraum“, so die deutsche Übersetzung des Originaltitels „Berdreymi“, eine von Gewalt geprägte Coming of Age Geschichte, die von Zugehörigkeit, sensiblen Freundschaften, Trauma und gebrochenen Familien erzählt. Guðmundsson balanciert gemeinsam mit seinem jungen Cast erneut zwischen erschütternder Radikalität und aufkeimender, tröstender Zärtlichkeit.
Der 14 Jährige Balli (Áskell Einar Pálmason) ist an der Schule ein ungeliebter Außenseiter. Auf schärfste gemobbt, findet er auch zu Hause keinen Halt. Die Mutter drogenabhängig, der prügelnde Stiefvater gerade im Gefängnis, ist der Jugendliche mal wieder auf sich allein gestellt. Dann lernt er die gleichaltrigen Addi (Birgir Dagur Bjarkason), Konni (Viktor Benóný Benediktsson) und Siggi (Snorri Rafn Frímannsson) kennen. Langsam entwickelt sich zwischen den Jungs und vor allem mit Addi so etwas wie Freundschaft, denn alle stammen aus zerrütteten Familienverhältnissen und haben mit inneren Dämonen zu kämpfen. Inmitten von außer Kontrolle geratener Brachialität und toxischem Weltbild finden die Jugendlichen in der Gemeinschaft Halt und möglicherweise einen Weg in eine bessere Zukunft.
Auch nachts träumt Addi von Gewalt, von inneren Dämonen. Davon, dass er einen Kerl zusammenschlägt, der es verdient hat. Aber auch von einer Frau, die ihm die Farben der Welt zeigt. Die Hoffnung der Gewaltspirale seiner Umgebung, in der er aufwächst, zu entkommen. Ein Albtraum und ein Wunsch, den auch Balli hegt und dessen Geschichte in den anfänglichen Minuten umrissen wird. Die Darstellung von expliziter Gewalt, die in „Heartstone“ gleichermaßen präsent war und ebenso überraschte wie erschütterte, führt der Regisseur in seinem neuen Film fort. Mobbing, das in einem Krankenhausaufenthalt mündet und Addi, dessen brodelende Brutalität sich in den Karatetrainingskämpfen andeutet, und der auch immer wieder Konni zur Seite steht, während der sich auf Rache sinnend durch die Stadt prügelt.
So wird schon jetzt jede Szene von „Beautiful Beings“ mit latenter Anspannung begleitet, jederzeit in der Erwartung der nächsten Eskalation beizuwohnen. Gerade deshalb beobachtet man auch das erste Aufeinandertreffen Addi und Balli mit Vorsicht. Auf alles gefasst entwickelt sich dieses aber ganz anders als erwartet und fördert eine traurige und unfassbar unbequeme Wahrheit zutage. Denn als die Jungs dem 14-Jährigen zu seinem verwahrlosten Haus folgen und die familiäre Situation kennenlernen, ist das zarte Mitgefühl, die unsichtbare Verbindung zwischen ihnen in all dem Chaos sofort spürbar. Das leere Haus wird für die Gruppe zu einer Art Zufluchtsort vor den häuslichen Problemen und den destruktiven wie traumatisierenden Vater-Sohn Beziehungen, mit denen jeder Einzelne von ihnen zu kämpfen hat. Wo Alkohol, Drogen, Prügel, Vergewaltigungen, Verwahrlosung und Desinteresse der tägliche Begleiter der Jugendlichen ist, lässt der Regisseur inmitten der Tristesse Augenblicke von unerwarteter Zärtlichkeit durchblitzen. Vor allem Addi ist derjenige, der Trost spendet, beschwichtigen will und Balli aus der Einsamkeit holt. Und das obwohl er mit eigenen Dämonen zu kämpfen hat, die ihn nach einem Pilztrip schemenhaft und nebelartig am helllichten Tag begleiten und aus den Zimmerecken anstarren.
Zwischen Halluzination, Albtraum und diffusen Vorahnungen inszeniert Regisseur Guðmundsson die in Addi schlummernden Ängste und Befürchtungen. Dabei entstehen fabelartige und mystische Bilder, die mit ihrer Schönheit im krassen Kontrast zu der gewaltigen Härte stehen, die „Beautiful Beings“ fortlaufend dominiert und die durch ihre Intensität bis ins Mark kriecht. Trotz schonungsloser und radikaler Darstellung einer jugendlichen Perspektive, die von toxischer Männlichkeit geprägt ist und ein bedrohliches Weltverständnis formt, sind die Figuren und ihr Handeln darin genauso nachvollziehbar wie ihr durchschimmerndes tiefes Verlangen nach Verlässlichkeit, Stabilität, Zärtlichkeit und Wunsch nicht nur nach Gerechtigkeit, sondern auch einem angstfreien Leben. Ein Balanceakt, den der Regisseur gekonnt meistert und einen Film abliefert, der auf vielen Ebenen bewegt und berührt.
Fazit
Fernab von Bilderbuchromantik, mit roher Gewalt und unnachgiebiger Atmosphäre, findet „Beautiful Beings“ in seiner Härte dann aber auch einen Funken Spiritualität, Zärtlichkeit und Wärme. Das Coming of Age Drama zeichnet damit ein gut beobachtetes und zerbrechliches Porträt eines Überlebenskampfes von Teenagern im nächtlichen wie gelebten Albtraum.
Bewertung
(94/100)
Anm. der Redaktion: Wir stehen der Entscheidung der Berlinale, das Festival heuer als reine Präsenzveranstaltung und ohne Online-Option abzuhalten, kritisch gegenüber und berichten deshalb nicht in gewohntem Umfang aus Berlin. Unsere Korrespondentin Madeleine Eger, die in Berlin lebt, wird unsere Leser/innen in den kommenden 10 Tagen aber mit Berichten und Filmkritiken durch die Berlinale begleiten.
Bild: © Sturla Brandth Grøvlen / Join Motion Pictures