Verlust und Trauer. Zwei Dinge, die für Erwachsene schon schwer zu bewältigen sind, für Kinder umso häufiger eine wenig einzuschätzende Herausforderung darstellen, mit der sie erst lernen müssen umzugehen. Dass Ängste, Trauerbewältigung und Fantasie dabei ineinandergreifen können, haben zuletzt auch Literaturverfilmungen wie „Sieben Minuten nach Mitternacht“, „I kill giants“ oder „Der geheime Garten“ unter Beweis gestellt. Monster, Riesen, fremde Welten oder wie in „Petite Maman“ die Zeitreise. Der kindlichen Vorstellungskraft und besonderen Bewältigungsstrategien sind keine Grenzen gesetzt.

von Madeleine Eger

Céline Sciamma, der 2019 mit dem romantischen Historiendrama „Portrait einer jungen Frau in Flammen“ der große internationale Durchbruch gelang und danach sämtliche Türen offen standen, realisiert mit „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ allerdings einen sehr viel kleineren und intimeren Film. Mit knapp 70 Minuten Laufzeit ist dieser um einiges kürzer als das vorherige Meisterwerk, was aber keineswegs bedeutet, dass das fantasievolle Familiendrama nicht genauso bezaubernd, liebevoll und berührend ist.

Vor Kurzem ist Nelly’s (Joséphine Sanz) Großmutter gestorben. Nachdem sie das Zimmer im Pflegeheim ausgeräumt haben, fährt die Familie zu dem Haus, in dem auch Nellys Mutter Marion (Nina Meurisse) ihre Kindheit verbrachte. Zu sehr von den Erinnerungen mitgenommen und von Trauer überwältigt, verschwindet sie aber am nächsten Morgen, ohne sich zu verabschieden. Die kommenden Tage verbringt sie mit ihrem Vater (Stéphane Varupenne) oder allein im angrenzenden Wald, in dem damals auch ihre Mutter einen Unterschlupf zwischen den Bäumen baute. Auf der Suche nach diesem lernt sie die gleichaltrige Marion (Gabrielle Sanz) kennen und freundet sich mit ihr an. Aber nicht nur das Mädchen, sondern auch das Haus kommt ihr bekannt vor. Nelly stellt fest, dass sie auf wundersame Weise 25 Jahre zurück in die Vergangenheit gereist und Marion ihre Mutter ist.

„Petite Maman“ beginnt mit Abschied. Einem verpasstem „Auf Wiedersehen“, dessen Nelly sich schuldig fühlt. Wahrscheinlich deshalb verabschiedet sie sich von all den älteren Damen in den Nachbarzimmern, bevor sie in das leere ihrer verstorbenen Oma zurückkehrt. In diesem packt ihre Mutter gerade noch die letzten Dinge zusammen, wirkt abwesend und versteckt ihre Trauer mit dem Blick aus dem Fenster. Den Gehstock möchte Nelly behalten und irgendwie scheint ihr auch das Blümchenmuster auf der Bettwäsche nur allzu vertraut und voller Erinnerungen zu stecken. Trotzdem kann sie die neue Situation, die tiefe Traurigkeit, die seltsame Zurückhaltung und merkwürdige Distanz ihrer Mutter schwer einordnen. Eine Umarmung, wie die, die sie ihr etwas später vom Rücksitz des Autos aus schenkt, ist scheinbar gerade die einzige Möglichkeit, ihr nah zu sein.

Gleich von Beginn an sind es die diese winzigen, fast unmerklichen Momente, die eine unglaubliche Zärtlichkeit, Liebe und gleichermaßen Neugier ausstrahlen. Man spürt, dass Nelly nicht nicht nur den Augenblick und das Handeln ihrer Eltern darin verstehen will, sie will sie und ihre Vergangenheit kennenlernen, aber auch ihre eigenen Gefühle einordnen. Das Haus, in dem sich noch alte Schulhefte und Spiele befinden, die jahrzehntealte Tapete, die hinter einem Schrank zum Vorschein kommt und der Unterschlupf im Wald bilden einen großen Flickenteppich aus Erinnerungen, den das Mädchen nach und nach versucht zusammenzusetzen. So beschwert sie sich später geradezu bei ihrem Vater, dass die beiden ja nie von ihrer Kindheit erzählen würden. Und wenn, dann nur kleine Geschichten. Von den wichtigen Dingen würde sie nichts erfahren. Eine Szene, in der Céline Sciamma mit einer unfassbaren Präzision ein vages Gefühl einfängt, dass sich mit ungeahnter Vertrautheit ins eigene Gemüt schleicht und die einen kleinen Schlüsselpunkt für die Charakterzeichnung darstellt. Zunächst sind es nämlich nur Eigenheiten, wie die Kakaoklümpchen, die Marion so gerne mochte, oder dass sie Probleme mit der Rechtschreibung hatte, dafür aber gut zeichnen konnte, die Nelly bei der Gleichaltrigen beobachtet. Nach und nach kommen Gefühle, Träume und Ängste hinzu. Je mehr Nelly von der Vergangenheit erfährt, desto detaillierter wird die Figurendarstellung in den folgenden Szenen. Immer besser kann sich das Mädchen in der gegebenen Situation mit Verlust, Trauer, Schmerz, Überwältigung und Trost zurechtfinden und ihre Eltern verstehen.

Was am Anfang noch so wirkt, als würde man mit Nelly ein Geisterhaus betreten, entwickelt sich schnell zu einem sicheren Raum, in dem das Alleinsein und das Vergängliche nicht mehr furchterregend ist und Ideen, Träume und Emotionen wachsen können. Céline Sciamma, die ihrer jungen Protagonistin und ihrer Entdeckungsreise stets auf Augenhöhe folgt, kreiert mit leuchtenden Herbstfarben und einer strahlenden Wärme eine kleine, zeitlose Geschichte, die liebevoll Trost spendet und zeigt, dass das Erleben von Trauer, Abschied und Angst mit allen Facetten alterslos ist.

Fazit

„Petite Maman“ verwischt feinfühlig die Grenzen von Realität und Fiktion und verwebt spielerisch, fantasievoll und mit Liebe zum Detail die Vergangenheit mit der Gegenwart. Ein kleiner Film, der behutsam die Schichten der Trauerbewältigung entblättert und am Ende mit großen Gefühlen und zauberhaften Bildern aufwartet. Ab dem 18. März im Kino!

Rating

Bewertung: 9 von 10.

(85/100)

Bilder: (c) Alamode Film