Jesse ist wahrlich ein besonderer junger Mann. Bei Gleichaltrigen findet der Neunjährige keinen Anschluss, stattdessen beschäftigt er sich lieber mit Verschwörungstheorien, führt seltsam anmutende Konversationen mit Erwachsenen und schlüpft regelmäßig in die Rolle eines imaginären Waisenjungen, um mit seiner Mutter zu kommunizieren. Er sei „exzentrisch“, sagt sein Onkel Johnny und fragt ihn eines Tages, warum er nicht einfach „normal“ sein könne. Doch was ist „normal“?

von Cliff Brockerhoff

Diese und andere Fragen stellt Jesse und fürchtet sich dabei weder vor der Antwort noch vor etwaigen Konsequenzen. Das erschwert das Zusammensein zwischen ihm und Johnny anfangs ungemein, doch mit der Zeit wird klar, dass Jesse sich nicht ohne Grund in Fantasie flüchtet, um die Realität zu bewältigen. In dieser muss sich seine Mutter nämlich um den psychisch labilen Vater kümmern und hat nur wenig Zeit für ihren Sohn. Onkel Johnny springt in die Bresche und nimmt seinen Neffen in „Come on, come on“ kurzerhand mit auf eine Reise, die nicht nur die Beziehung zwischen ihnen für immer verändern wird.

Detroit, New York, New Jersey: dies sind im Verlauf des Films einige der Schauplätze des wohl ungewöhnlichsten Roadtrips seit langem. Eigentlich ist es aber auch egal wo sich die Zwei aufhalten, denn die ungefilterten Impressionen und daraus resultierenden Gefühle sind überall identisch – vor allem für einen Neunjährigen, der schon früh mit der Härte des Lebens konfrontiert wird und verzweifelt nach Halt sucht. Regisseur Mike Mills wählt zur Veranschaulichung eine wundervolle Analogie, lässt Jesse, ausgestattet mit Tonbandgerät und Mikrofon, durch die Szenerie laufen um Geräusche, Reize und Töne für immer einzufangen. Auf den ersten Blick lediglich eine Randnotiz des Films – immerhin ist es Johnny von Beruf Radiojournalist und reist bewusst durch die Lande zu reisen um Menschen zu interviewen – doch durch die Augen und vor allem Ohren des Kindes bekommt der Sachverhalt eine gänzlich andere Tragweite. Spürbar wird diese vor allem in den Dialogen, durch die Fragen, die Johnny nur schwer beantworten kann. Nicht nur, weil er selbst noch in der Verarbeitung persönlicher Verluste steckt, sondern vor allem deshalb, weil sein Neffe präzise die Fragestellungen aufwirft, vor dessen Beantwortung sich die Erwachsenen mit Vorliebe verstecken. Fragen nach dem „warum?“, über das Leben, seine Bedeutung, Gefühle, Ängste und die Zukunft.

So entsteht immer wieder ein herrlicher Kontrast zwischen der eigentlich leichtfüßigen Inszenierung und dem inhaltlichen Schwermut, der sich uns offenbart. Es fällt leicht sich selber in den Ausführungen und Gedankengängen wiederzufinden, nachzufühlen was die Protagonisten empfinden und doch schafft es Mills auch des Öfteren die Atmosphäre mittels Situationskomik aufzuhellen. Joaquin Phoenix erweist sich hier als perfekte Besetzung, eben ein Jedermann, der sich beinahe selbst zu porträtieren scheint. Wenn er denselben Satz dreimal beginnt, Sprechpausen einlegen muss um die richtigen Worte zu finden und dann doch kopfschüttelnd resigniert, fühlt sich das alles nicht mehr wie ein Spielfilm an, sondern viel eher so als wenn wir einer realen Konversation beiwohnen, eben weil wir sie selber womöglich schon geführt haben. Woody Norman, der den wissbegierigen Neffen spielt, trägt zusätzlich zu der sehr geerdeten Grundstimmung bei, die „Come on, come on” durch seine etwa 100 Minuten begleitet. Diese sind geprägt von nostalgischen Schwarz-Weiß-Bildern, lediglich dezent anklingender, musikalischer Untermalung und einer sehr gefühlvoll ausgeprägten Ausrichtung, die der Film gekonnt ansteuert. Handlungstechnisch passiert indes gar nicht viel – was mitunter auch der größte Kritikpunkt ist, da der Zugang für Außenstehende, vor allem aufgrund der eingestreuten, literarischen Ausflüge, durchaus erschwert wird – aber alles was passiert ist authentisch, nahbar und anstandslos ehrlich. So ehrlich wie Jesses Fragen, denen wir uns alle früher oder später stellen müssen.

Fazit

Wie durch ein kindliches Kaleidoskop wirft “Come on, come on” einen flüchtigen Blick auf die grenzenlose Konfusion zwischenmenschlicher Interaktion, auf Zukunftsängste, Wertschätzung und Aufopferung. All das ist unglaublich warmherzig, sensibel inszeniert, aufgrund der zähen Erzählweise am Ende aber gleichzeitig auch zu ereignislos um seine Zuschauerschaft restlos zu vereinnahmen. Sowas muss man mögen, und diese Doppeldeutigkeit ist absolut beabsichtigt. Ab dem 24.03. im Kino!

Bewertung

Bewertung: 6 von 10.

(62/100)

Bilder: ©DCM Film Distribution / A24

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