Wer nach der neuen Staffel von “Stranger Things“ ein wenig auf den Geschmack des Grusels gekommen ist, kann sich einer kleinen Mutprobe unterziehen, denn auf Netflix ist seit kurzem der neue Horrorfilm „Incantation“ aus Taiwan zu sehen – und der ist nichts für schwache Nerven. Als Mischung aus Found Footage und Mockumentary ist er zwar etwas wackelig auf den Beinen, aber die interessante Story und unheimliche Atmosphäre dürften doch den einen oder anderen Zuschauer überzeugen.

von Natascha Jurácsik

Ruo-nan wird aus einer psychiatrischen Klinik entlassen und darf nun endlich ihre kleine Tochter Dodo zu sich holen. Doch das Glück der widervereinten Familie hält nicht lange an, da schon nach wenigen Tagen seltsame Dinge geschehen und die junge Mutter es mit der Angst zu tun bekommt. Nach und nach wird klar, warum sie eigentlich in Behandlung musste: Während ihrer Schwangerschaft sind Ruo-nan und zwei Freunde als Amateur-Geisterjäger in eine kleine Kommune in den Bergen gefahren, um sich dort die von den Anwohnern praktizierte Religion genauer anzusehen, welche die Verehrung der sogenannten „Mutter Buddha“ vorsieht. Nachdem sie heimlich einen verbotenen Tunnel erforschten, war Ruo-nan scheinbar die einzige Überlebende – doch sie ist überzeugt, dass nun ein Fluch auf ihr und ihrer Tochter lastet.

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Seit dem immensen Erfolg von „The Blair Witch Project“ genießt der Found Footage Film ein gewisses Maß an Popularität und ist zu einem eigenen Subgenre geworden. Regisseuren imponiert der Stil, da er mit einem sehr geringen Budget umsetzbar ist und durch das Eintauchen in die Handlung effektive Gänsehautmomente entstehen können. Allerdings gibt es auch eine Vielzahl an misslungenen Beispielen, was meistens daran liegt, dass der minimalistische Dreh trügt und die Umsetzung unterschätzt wird.

Zugegeben ist „Incantation“ sehr unterhaltsam und sogar unheimlich, doch Regisseur Kevin Ko hat sich offenbar nur oberflächlich mit den Konventionen des Genres auseinandergesetzt. Regel Nummer 1 des Found Footage: Die Charaktere brauchen einen triftigen Grund, um die Kamera laufenzulassen. Ein guter Film hat meist einen Anlass zu Beginn, der sich im Laufe der Geschichte der veränderten Motivation der Figuren anpasst – „Host“, beispielsweise, fängt als ein Zoomtreffen unter Freunden an, doch als die Séance schief geht, lassen die Mädchen ihre Bildschirme an, um in ihrer Angst nicht allein zu sein und zu beobachten, wie es den anderen geht. Mit etwas Kreativität kann auch ein zusätzlicher Kameragebrauch miteingebaut werden, wie bei „Paranormal Activity“, ohne die interne Logik zu stören. Kevin Ko wollte sich bei „Incantation“ anscheinend nicht auf solche Art einschränken lassen: Das Ergebnis ist eine verwirrende Kombination aus Mockumentary und Found Footage, bestehend aus Videotagebüchern, Handyaufnahmen, Überwachungsaufzeichnungen, versteckten Kameras und einigen Bildern unerklärlichen Ursprungs. Es wirkt fast als hätte Ko eigentlich einen herkömmlichen Horrorfilm drehen wollen und nur im letzten Moment entschieden, Found Footage-Elemente zu verwenden.

Auch die Story selbst versucht viel zu viel auf einmal zu bewältigen: Plotdetails, Zeitsprünge, Nebenhandlungen und Hintergrundinformationen kämpfen um die Aufmerksamkeit des Publikums, ohne wirklich relevant zu sein. Und genau an diesem Punkt sticht Kos Unbeholfenheit im Angesicht des von ihm erwählten Stils hervor: Er versucht die Immersion, wie bei „normal“ gedrehten Filmen, durch eine facettenreich ausgearbeitete Geschichte hervorzubringen, obwohl eben diese bei Found Footage durch die Ästhetik erreicht wird, wobei sich die Erzählung ihr unterordnen muss.

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Die Flut an Details ist zwar interessant aus narrativer Sicht, doch sie wird vom Stil nicht gerechtfertigt und dem Zuschauer einfach vor die Füße geworfen: Aus „Incantation“ könnte man mindestens drei separate Filme machen. Es hätte geholfen, wenn Ko und sein Schreibpartner Che-Wei Chang sich ein Drehbuch von einem guten Found Footage oder Mockumentary Film durchlesen, denn die sind meistens recht kurz: „The Blair Witch Project“ hatte ein Skript von nur ca. 35 Seiten. Zusätzlich fördert eine stark begrenzte Menge an Information die Spannung und es besteht geringere Gefahr für Unregelmäßigkeiten.

Man hat hier also versucht, einen regulären Horrofilm im Found Footage-Look zu drehen, ohne wirklich zu verstehen, was das Genre ausmacht. Denn auch wenn „Incantation“ mit sympathischen Charakteren, talentierten Schauspielern und einigen verstörenden Momenten punktet, verliert er einen erheblichen Teil seiner Effektivität, da sich der Regisseur nicht für eine Drehart entscheiden konnte, wodurch auch das von „Ringu“ inspirierte Twist-Ende doch die Wirkung verfehlt.

Fazit

Eine wirksame Story, gut gespielte Figuren und ein paar erschreckende Augenblicke machen „Incantation“ als Horrorstreifen absolut sehenswert, vor allem wenn man ihn mit anderen Netflix-Beiträgen vergleicht. Genre-Fans sollten allerdings nicht zu viel erwarten, da Kevin Ko als Regisseur seine Hausaufgaben allem Anschein nach nur halbherzig gemacht hat. Doch lässt man sich von dem Mangel an interner Logik nicht allzu sehr irritieren, hat man zumindest einen netten Gruselabend auf dem Sofa vor sich. Ab 8.7. auf Netflix.

Bewertung

Bewertung: 7 von 10.

(68/100)

Bild: (c) Netflix

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