Wenn im Sommer alles in voller Blüte steht, die Welt in satten Farben leuchtet und für wenige Augenblicke Sorglosigkeit, Unbeschwertheit und Träume die Oberhand gewinnen, lauert irgendwo im Verborgenen dennoch schon die Gewissheit, dass diese Zeit nicht von Dauer sein wird. Das Bild eines dicht bewachsenen bunten Blumenfeldes macht sich Festivalliebling und Cannespreisträger Lukas Dhont in seinem Film „Close“ zu Eigen, um von einer blühenden Freundschaft zu erzählen, die im wechselhaften Rhythmus eines in Normen gefangenen Lebens langsam ihre Strahlkraft verliert und schmerzhaft still daran zerbricht.

von Madeleine Eger aus Hamburg

Ebenso wie in Dhont’s Regiedebüt, dem Transgender-Ballettdrama „Girl“, das 2018 mehrfach in Cannes ausgezeichnet worden ist, spielen auch im zweiten Langfilm des belgischen Regisseurs Jugendliche auf der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt die Hauptrolle. Während „Girl“ Veränderungen noch mit aller Macht provozierte und sich mit Willensstärke und Gewalt in ein drastisches (und sehr kontroverses) Finale stürzte, ist es in „Close“ der schleichende Prozess einer ungewollten Veränderung, der herausragend beobachtet eine immense und emotional überwältigende Fallhöhe entwickelt, bevor ein Schicksalsschlag dem Drehbuch schließlich die Kraft raubt.

Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele), beide 13 Jahre alt, sind seit ihrer frühsten Kindheit die besten Freunde. Während der Sommerferien fast unzertrennlich, wird die ländliche Gegend, in der die beiden aufgewachsen sind und Léos Eltern eine Blumenfarm unterhalten, zum riesigen Spielplatz für die beiden Jungs, die am Abend im Bett gemeinsam in den Schlaf fallen. Beide verbindet eine vorbehaltlose und innige Freundschaft, die jedoch bereits während der ersten Tage an der neuen Schule kritisch und mit Neugier beäugt wird. Für die Mitschüler sind die zwei Jungen ein ungewöhnlich intimes Paar und die Frage nach einer möglichen Beziehung irritiert die beiden. Eine Konfrontation, die Spuren hinterlässt, aber vor allem bei Léo zu Konflikten führt. Eine Freundschaft auf dem Prüfstand, in der aus Nähe Distanz wird und die durch eine Tragödie endgültig in Trümmern liegt.

„Kommst du auch irgendwann mal nach Hause?“, wird Léo von seiner Mutter noch scherzhaft hinterhergerufen, als er mit Rémi im Spiel durch die farbenprächtigen Blumenfelder rennt. Ein malerischer Augenblick purer Energie und Lebensfreude, in dem der Hintergrund verschwimmt, die Welt den beiden 13-Jährigen ganz allein zu gehören scheint. Lukas Dhont taucht seine Bilder von Beginn an in gleißendes, aber gleichzeitig sanftes Licht, das in warmen, nie aufdringlichen orange Tönen die beiden Jungs umspielt und damit den Zauber einer engen Freundschaft bebildert, wie man es zuvor selten im Kino miterleben durfte.

Es ist die Nähe zu seinen Darstellern und deren bemerkenswerter Chemie sowie unfassbar nuancierter Ausdrucksstärke zu verdanken, dass die Szenerie nicht dem Kitsch zum Opfer fällt. Stattdessen wird der Raum mit Gefühlen geflutet, von Anfang an wird man Teil einer Welt aus vielen unausgesprochenen Gedanken, in der Einer der beiden Jungs immer mehr in den Mittelpunkt der Geschichte rückt.

Schon als Rémi seine Oboe spielt, ist es Léo, auf den sich Dhont konzentriert und von dessen Gesicht wir Bewunderung und Ergriffenheit ablesen können. Wenige Augenblicke bevor dieselben großen blauen Augen seinen bereits schlafenden Freund im Bett beobachten und vorsichtig musternd Antworten auf Fragen suchen, die noch nicht gestellt worden sind. Es lässt sich nur vermuten, ob Léo in dem Moment die gemeinsamen Erlebnisse Revue passieren lässt, seine eigenen Gefühle versucht einzuordnen oder sich vielleicht sogar fragt, ob die enge Verbindung in ihrer liebevollen Art weiterbestehen kann. Was genau den Jungen beschäftigt, lässt Dhont unausgesprochen. Es ist aber vielleicht der Erste, wenn auch noch sehr diffuse Schatten, der über beiden lauert, bevor sich mit Schulbeginn sowie den forschen Mitschülern erste Risse und Konflikte manifestieren und der Regisseur die Tonalität in seinem Drama schleichend verändert.

Léo, der den Anschluss an die Jungsgruppe sucht, wird zunehmend abweisender und entzieht sich Rémis Annäherungsversuche, der nicht verstehen kann, warum er sich plötzlich anders verhalten sollte und mit dem Bruch in ihrer Freundschaft immer schweigsamer wird. Wege trenne sich, das warme Licht, das die Szenerie am Anfang noch begleitete, ist verschwunden. Stattdessen drängt sich dunkle Kälte ins Bild, die Léo nun nicht nur wegen seines neu begonnen Eishockeyspiels umgibt. Fast jeder Moment, in dem die beiden aufeinandertreffen, wirkt angespannt, Léo sogar oft plötzlich um ein paar Jahre älter. Es ist die Inszenierung aus kraftvoller Körpersprache und des schmerzvollen Schweigens, in der die Kamera mehrfach bewegungslos auf den Gesichtern der Darsteller verharrt, weshalb „Close“ so eindrucksvoll auf sein Publikum einwirken kann. Besonders in dem Moment, als Léos von seiner Mutter erfährt, dass er seinen Freund nie wieder sehen wird, reißt Lukas Dhont einem den Boden unter den Füßen weg. Aber: Ab diesem Punkt entwickelt sich „Close“ mit seinem Protagonisten zu einer universelleren Coming-of-Age Geschichte, die damit spürbar an Nachdruck verliert. Lukas Dhont entfernt sich von seinem feinfühligen Porträt einer innigen Jugendfreundschaft und widmet sich in der zweiten Hälfte seines Films einem Trauma, das sich zwar in herzzerreißenden Erkenntnissen in Léos Bewusstsein drängt, in seiner Ausarbeitung vergleichsweise aber leider oberflächlich und funktional wirkt.

Fazit

„Close“ ist ein behutsam erzähltes, wunderschönes Drama von eindrucksvoller emotionaler Strahlkraft, das bis zur beklemmenden Wendung im Drehbuch ein brillant beobachtetes und sensibles Porträt einer zarten Freundschaft zeichnet, die an Gesellschaftsnormen zerbricht.

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

(81/100)

Gesehen beim Filmfest Hamburg, ab 2.2.2023 im Kino.

Bild: (c) Pandora Film Verleih