Wenn es um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Frauen geht, geht es auch um das Grundrecht auf sichere Schwangerschaftsabbrüche. Vielerorts ist in der Hinsicht der Blick rückläufig gewandt. Gesetzte werden verschärft, Restriktionen erweitert und gebärfähigen Menschen ihre Mündigkeit abgesprochen. Als im Frankreich der 70er-Jahre die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kam, fragt die filmtitelgebende Annie irgendwann, was passiert, falls die Regierung das Gesetz in unbestimmter Zukunft wieder ändern sollte. Nun, was dann passiert, kann man nicht nur in den derzeitigen Nachrichten miterleben, auch Filme der vergangenen Monate veranschaulichten ein Szenario von erschreckender und mitunter eindringlicher Brisanz.

von Madeleine Eger

In „Das Ereignis“ werden Stigma und Gefahren einer Kriminalisierung von Aborten sehr nachdrücklich und erschütternd bebildert. „Niemals selten manchmal immer“ nahm sich der Hürden und der gesellschaftlichen Ablehnung an, auf die die Betroffenen trotz Legalisierung stießen. „Call Jane“ von Phyllis Nagy sowie nun auch „Annie Colère“ von Drehbuchautorin und Regisseurin Blandine Lenoir zeichnen den harten Weg der Frauenkollektive nach, die als Aktivistinnen nicht nur für eine Gesetzesänderung kämpften, sondern bis es dazu kommen sollte, zusätzlich illegal Schwangerschaftsabbrüche vornahmen und die notwendige Unterstützung boten, die der Staat verweigerte. „Annie Colère“ ist als Drama mit einigen wenigen komödiantischen Ansätzen allerdings weniger politisch, als es vermuten lässt. Aktualität und Symbolkraft büßt der Film dennoch keineswegs ein. Vor allem nicht, wenn an unsichtbaren Machtstrukturen gerüttelt wird, denen man unbewusst noch immer erliegt.

Frankreich, Anfang der 70er. Annie (Laure Calamy), Fabrikarbeiterin und zweifache Mutter, wird ungewollt schwanger. Da sie die Schwangerschaft nicht fortsetzten möchte, tritt sie mit einer Gruppe der MLAC (zu dt. etwa „Bewegung für die Freiheit von Abtreibung und Verhütung“) in Kontakt. Eine zunächst noch verdeckt arbeitender Zusammenschluss, der nicht nur die illegalen Abbrüche vornimmt, sondern auch landesweit vernetzt ist um sich für Frauenrechte zu engagieren. Annie fühlt sich mit den Frauen verbunden und entdeckt durch die Empathie der Gemeinschaft und den Frauen, denen sie dort begegnet, ihr eigenes Interesse politisch etwas zu verändern. Auch für ihre Tochter, die anders aufwachsen und die Wahl haben soll, wie sie ihr Leben gestaltet. Annies neuer Tatendrang stößt bis zur Gesetzesänderung jedoch nicht nur bei ihrem Mann auf Widerstand.

„Annie Colère“ beginnt vielleicht nicht ohne Grund in der Matratzennäherei. Dort, wo lange dicke Nadeln und großen Scheren das Handwerkszeug sind und im Bild damit provokant, fast mahnend daran erinnern, mit welchen Methoden Schwangerschaftsabbrüche herbeigeführt werden, wenn sie unter Strafe stehen. Ein flüchtig erscheinender Gedanke, der sich allerdings nur kurze Zeit später verfestigen wird, wenn die Frauen beim Treffen der MLAC zur Anamnese nach vorherigen Abtreibungen befragt werden. Eine Szene, bei der sich die davongetragenen Traumata nur erahnen lassen. Während die Regisseurin einige ihrer Figuren mit einer gewissen Abgebrühtheit die Vergangenheit schildern lässt, so lässt sie Annies Erlebnisse im Verborgenen. Täuschen lassen sollte man sich davon jedoch nicht, denn die sensible Darstellung von Hauptdarstellerin Laure Calamy spricht Bände. Nicht nur einmal stehen ihr nämlich die Tränen in den Augen, und es ist, als würde sich der eigene Hals gleich ein kleinen bisschen mit zuschnüren, als alles was sie dazu sagen kann ein beklemmendes „normal, eben…“ ist. Was normal bedeutet, kann, aber möchte man sich eigentlich kaum mehr vorstellen, wenn man erfährt, wie riskant und gefährlich die Prozedur sein konnte.

Das Drama versteift sich allerdings nicht auf die Drastik und Tragik, die bei diesem Thema aus ihrer Geschichte heraus natürlicherweise konsequent mitschwingt. Statt also die Vergangenheit drohend schwer ins Zentrum zu rücken, merkt man ziemlich schnell, dass Lenoirs Geschichte um das Frauenkollektiv vielmehr als informativ aufklärerischer Appell fungiert, ausgestattet mit einem gewissen Maß an Leichtigkeit. So beleuchtet sie einfühlsam die diversen Beweggründe und komplexen Verflechtungen, die zu der Entscheidung einer Abtreibung führen. Sie stellt uns Frauen jeglicher Altersklassen und Gesellschaftsschichten vor und lässt dabei nicht unerwähnt, dass auch die Partner einen erheblichen Druck ausüben können und Mitschuld tragen, wenn Verhütung abgelehnt wird. Eine Bevormundung, hinter der sich Unwissenheit und Machtstrukturen verstecken, die „Annie Colère“ im Verlauf ins Wanken bringt. Und das eben nicht erst als die neu rekrutierten Ärzte sich zunächst noch mitfühlenden Gesprächen verweigern und deshalb kurzerhand selbst auf dem Gynäkologenstuhl Platz nehmen sollen, um die Perspektive der Frauen nachzuempfinden. Auch die Ehe von Annie steht zusehends auf dem Prüfstand. Ihr Mann, der sich zunächst noch interessiert, unterstützend und bewundernd über den Tatendrang von seiner Frau zeigt, entpuppt sich als weniger progressiv als gedacht. Der sieht sie am Ende nämlich doch lieber mit dem Kaffeekocher und der Bratpfanne als dem medizinischen Wissen über weibliche Sexualität und Schwangerschaft. Wenn allerdings das alltägliche Fahrradfahren der Hauptfigur zum symbolischen Weg in die Veränderung und Sichtbarkeit wird, wächst mit „Annie Colère“ die Wut, aber auch die Hoffnung. Eine Schlagzeile im Film lautete: „Schluss mit der Heimlichtuerei“. Kaum etwas könnte wohl für das Drama am Ende bezeichnender sein.

Fazit

„Annie Colère“ ist ein Appell an die Solidarität, die Empathie, die sexuelle Aufklärung sowie Selbstbestimmung, die Sichtbarkeit und das Brechen von alten Machtstrukturen. Ein thematisches Schwergewicht, das nie in Tragik oder Melodramatik abrutscht, die Komplexität zuweilen jedoch nur skizzenhaft beleuchten kann.

Bewertung

Bewertung: 7 von 10.

(69/100)

Bilder: ©Aurora Films