Ein weiteres, abnormales (Film-)Jahr neigt sich dem Ende: Während die klassische Filmbranche 2022 (teils verzweifelt) versuchte, wieder Fuß in der alltäglichen Krisenwelt zu fassen und Normalität zu versprühen, wo keine ist, drehte sich die digitale Realität unaufhaltsam weiter Richtung Zukunft: Disney+ wurde zum potenten Streaming-Player und sägt an Krösus Netflix‘ Vormachtstellung, das weiterhin mit Kundenunzufriedenheit und Qualitätsmangel zu kämpfen hat. In unseren Breiten machte sich WOW (vormals Sky Ticket) als neuer Player einen Namen, während mit Paramount+ schon der nächste Streamingdienst in der Tür steht.

Im Kino feierten große Blockbuster ihr Comeback, die sich wenig(er) um politisch korrekte Darstellungsformen und „richtige“ Themen scherten, als um gute, altmodische Kino-Unterhaltung und immersiven Eskapismus, nach den biederen letzten Jahren voller Agenda-Filme durchaus ein Schritt in die richtige Richtung: Denn das Kino, will es überleben, braucht dimensional große Werke wie „Top Gun: Maverick“, „The Batman“, „Elvis“ oder „Avatar: The Way of Water“, bei denen es tatsächlich einen Unterschied macht, ob sie zuhause am Laptop oder auf der großen Leinwand gesehen werden. Diese Entwicklung – größer ist mehr -, die Renaissance des Mainstream-Blockbusters mit gewissem Anspruch, schlug sich auch in unseren Jahrescharts nieder. Bedenklich bleibt daneben, dass sich gerade die „etablierte“ Branche mit ihren lange eingeübten Ritualen und Abläufen – Stichwort Filmfestivals -, die gerne politische und sozialkritische Absichten vor sich herträgt, teils aktiv und konsequent weigert, sich mit gesellschaftlichen und politischen Realitäten auseinanderzusetzen (Corona & Folgen, Gesundheitskrisen, Ukraine-Krieg, Teuerung, Energiekrise, Demokratiekrise, Medienkrise) oder an Lösungen mitzuwirken: Ein kolossales intellektuelles und kulturelles Versagen. Ähnliches gilt im großem Ausmaß übrigens auch für die „Kreativen“, die Drehbuchautor/innen dieser Welt. Denn wo sind die kritischen, anspruchsvollen Filme zur Gegenwart, die künstlerischen Zeitdiagnosen, die die Finger in die Wunden legen?

Während sich das Filmjahr (sowohl im Kino, als auch im Streaming) grosso modo als qualitativ bestenfalls mittelmäßig beschreiben lässt, herrscht auf der Serienfront weiterhin Überflutung: Die immer neuen Streamingdienste spülen immer mehr „Content“ in die Bildschirme, den Überblick zu behalten ist nahezu unmöglich. Das Gute daran ist, dass hier nicht nur Quantität, sondern auch Qualität herrscht: Die spannendsten, klügsten und nachhaltigsten Versuche visuellen Erzählens finden derzeit zumeist in Serienform statt, (neue) Titel wie „The White Lotus“, „The Bear“, „Outer Range“ oder „The Watcher“ bearbeiten nicht nur die Gegenwart, sondern weisen auch in die Zukunft. Hinzu kommen Mainstream-Erfolge wie die „Dahmer“-Serie oder „Wednesday“ auf Netflix, die es schaffen, zu popkulturellen Phänomenen zu werden? Wie viele Spielfilme schafften das zuletzt (Ausnahmen bestätigen die Regel)?

Die Film plus Kritik – Redaktion blickt zum Jahresende wie gewohnt zurück auf das vergangene Filmjahr. Wie schon im letzten Jahr wurden sowohl Filme, als auch Serien(staffeln) in den individuellen Wertungen berücksichtigt, um die Bedeutung dieser „Langform“ visuellen Erzählens zu unterstreichen. Und zum ersten mal hat es auch ein Serientitel unter die Top 5 geschafft. Nominierbar waren alle Filme und Serien, die zwischen 1.1.2022 und 25.12.2022 (Redaktionsschluss zum Beitrag) in Deutschland oder Österreich im Kino, auf einem Streamingdienst oder fürs Heimkino (DVD, BD, VOD) veröffentlicht wurden. Jede/r unserer 7 teilnehmenden Kritiker/innen stellte eine Listen mit seinen / ihren 15 Top-Titeln zusammen, die mit Punkten versehen wurden: 15 Punkte für Platz 1, 14 für Platz 2 usw. Das kombinierte Endergebnis ergibt sich durch die Addition der entsprechenden Punkte (die Zahl in Klammer bedeutet die Anzahl der Nennungen des jeweiligen Titels, d.h. in wie vielen Toplisten er vorkommt):

(ck)

Platz 15: „Athena“ – 15 Punkte (1)

Selten schaffte es ein Film, einem die Sinnlosigkeit von Gewalt so schmerzhaft vor Augen zu führen wie „Athena“. Ein Werk, so wütend, unberechenbar, aufwühlend und doch auch nahbar und intim. Eine tobende Symphonie aus Chorgesang und Explosionen, die immer weiter hinabführt in die Spirale aus Vergeltung und dem Wunsch nach persönlicher Katharsis. Ein technisch hochklassiges Lehrstück moderner Filmkunst. Ein Bastard, der nachwirkt. (cl)

ex-aequo mit:

„The White Lotus“ – Staffel 2 – 15 Pkt. (1)

Autor und Showrunner Mike White setzt in Staffel 2 fort, was er mit Staffel 1 begonnen hatte: Sie entführt uns ins heiße Sizilien, wo sich im noblen Urlaubsresort zwischen Drinks, dolce far niente, Sonne und Sex menschliche Abgründe auftun, umgeben von den scharfen Spitzen menschlicher Befindlichkeiten, gleichsam den Felsen, die den edlen (Alb-)Traumstrand säumen. Zentrales Topos von Staffel 2 ist das verwandte Begriffspaar Begierde und Betrug, Ausführende sind – durchaus auch in wechselnden Rollen – alle männlichen und weiblichen Figuren dieses klugen, tiefgründigen und trotzdem höchst unterhaltsamen Film-Romans, der es wie derzeit keine andere Serie schafft, das Schöne neben das Schreckliche, die Lust neben das Laster, hehre Ideale neben tiefste Abgründe zu stellen und so geradezu existentialistischen Charakter hat. (ck)

Platz 14: „She Said“ – 16 Pkt. (2)

Visuell ist „She Said“ ein Erfolg: Eine Kombination aus minimalistischer, sauberer Ästhetik und einzelnen Bildern, die teils wie Gemälde von Edward Hopper wirken. Die Kameraführung ist genaustens an die jeweilige Stimmung des Gezeigten angepasst, wobei sie nicht im Dienste des Realismus in den Hintergrund verschwindet, sondern zwischen dem subjektiven Blick der Akteure und dem objektiven Blick der Außenwelt wechselt und hierdurch die Zuschauer daran erinnert, dass die Geschehnisse auf der Leinwand einen weitaus größeren Einfluss auf die Allgemeinheit hatten, als der Fokus auf narrative Einzelheiten zeigt: Ein überzeugendes Journalismus-Drama, das mit einem sehr guten Cast die komplexe Geschichte über die Rolle der New York Times im Fall Harvey Weinstein auf interessante Weise und mit viel Empathie auf die Leinwand bringt. (nj) -> Filmkritik

Platz 13: „The Menu“ – 18 Pkt. (2)

Das Drehbuch zu „The Menu“ weist einen soliden Aufbau vor, ist mit interessanten Dialogen reich an subtilem Humor und wird von Regisseur Mark Mylod visuell gelungen umgesetzt. Die Ästhetik der Fine Dining-Welt wird auf der Leinwand hervorragend wiedergegeben, jeder Gang ist optisch faszinierend, ohne tatsächlich appetitlich zu sein und das kühle Intellektualisieren von Essen macht sich über High Ende-Exzesse lustig, biegt dabei allerdings nicht in Richtung Parodie ab: Wer sozial-kritische Inhalte – und mögen sie noch so unterschwellig sein – im Kino eher meidet, sollte dies auch bei „The Menu“ tun. Der oder diejenige verpasst dann allerdings einen hervorragenden satirischen Thriller, der nicht nur originell konstruiert, sondern auch optisch einwandfrei umgesetzt ist. (nj) -> Filmkritik

Platz 11: „The Card Counter“ – 19 Pkt. (2)

Die stoische Erzählweise von „The Card Counter“ profitiert im höchsten Maße von einem eiskalt aufspielenden Oscar Isaac und Schraders‘ unverkennbarem Gespür für eine bedrohliche Atmosphäre. So treffen persönliche Katharsis und die Kompromisslosigkeit militärischer Foltermethoden aufeinander und erzählen im Kern eigentlich eine schon fast bittersüße Liebesgeschichte. Spannend bis zum Anschlag und ein absoluter Jackpot der jüngeren Filmgeschichte. (cl) -> Filmkritik

ex-aequo mit:

„Triangle of Sadness“ – 19 Pkt. (2)

Ruben Östlunds zweiter Palme d’Or-Gewinner ist ein Paradebeispiel einer gelungenen Charakterschilderung und macht sich als meisterhaft inszenierte Satire über die Reichen und Schönen auf subtile Art lustig. Der Fokus liegt hierbei eindeutig auf den Dialogen, denn wirklich viel passiert eigentlich nicht – doch der Spannung schadet dies nicht, da die spärliche Handlung dennoch unvorhersehbar bleibt und ab und zu von Momenten des Wahnsinns durchbrochen wird. Darüber, ob der Preis aus Frankreich verdient ist oder nicht, lässt sich vermutlich streiten – nicht aber über die höchst amüsante Darstellung der Figuren und ihre von schwarzem Humor getränkte Geschichte. (nj) -> Filmkritik

Platz 9: „Bones and all“ – 22 Pkt. (2)

„Bones and all“ ist ein Roadmovie der alten Schule, wandelt jedoch abseits bekannter Pfade und ergötzt sich stattdessen am Wegesrand an kuriosen Figuren und deren Lebensumstände. Eine Romanze ohne Kitsch, Horror ohne Klischees. Trotz Schwächen verbleibt ein grafisch überraschend expliziter Film, der an seiner Zuschauerschaft nagt und die Sinnsuche in der Andersartigkeit blutrot einfärbt. (cl) -> Filmkritik

ex-aequo mit:

„Corsage“ – 22 Pkt. (2)

„Corsage“ ist eine rebellische Sinnessuche, die eine bekannte Geschichte neu erzählt: Kaum ist Sissi am Hof anzutreffen, lieber bereist sie die Welt, raucht und kokettiert mit den verschiedensten Männern. Es zeichnet sich ein sehr diffuses Bild der berühmten Kaiserin, die zwar Protagonistin, aber nicht immer Heldin ihrer Geschichte ist. Ein interessanter Einblick in ein oftmals romantisiertes Leben, durch einen modernen, progressiven und vor allem weiblichen Blick eingefangen. (bj) -> Filmkritik

Platz 8: „Der schlimmste Mensch der Welt“ – 27 Pkt. (2)

Was „Der schlimmste Mensch der Welt“ so wirksam macht, ist, dass er viele Momente der Wiedererkennung und Identifikation zulässt, ganz gleich, wo man selbst gerade im Leben steht: Die einen erkennen sich vielleicht in der weiblichen Hauptfigur Julie wieder, oder in einem der anderen, gleichsam sich auf der Suche befindenden Charaktere. Oder man erkennt gar sein altes Selbst, denkt zurück an die eigenen Probleme und Gedanken, die man zu dieser Zeit im Leben hatte. Das ist es doch, was Filme oftmals so magisch macht; sich von den Schönheiten des Lebens mit all seinen Schattenseiten berauschen zu lassen, und vielleicht sogar etwas mehr über sich selbst zu erfahren. (bj) -> Filmkritik

Platz 7: „The Northman“ – 30 Pkt. (3)

Treffen sich Shakespeare und Odin in einer Spelunke – bei „The Northman“ prallen nordische Mythologie und pathetische Theatralik aufeinander und entfesseln ein animalisches Inferno vor malerischer Kulisse. Regisseur Robert Eggers öffnet sich dabei ein Stück weit dem Mainstream, opfert seine individuelle Vision jedoch glücklicherweise nie in Gänze, sodass auch sein drittes Werk so einigen das stumpfe Schwert vor den Kopf stößt. (cl) -> Filmkritik

Platz 6: „Elvis“ – 31 Pkt. (4)

Baz Luhrman gelang mit seinem Elvis-Biopic ein gewohnt megalomanisches Stück Kinounterhaltung, das trotz allen Bombasts auch durch leise Töne und Nuancen glänzt. Zu verdanken hat das „Elvis“ zum einem dem Drehbuch, das die komplexe und konfliktreiche Beziehung zwischen dem „King“ und seinem durchtriebenen Manager Colonel Tom Parker in den Mittpunkt der Erzählung stellt. Zum anderen einer überragenden Leistung von Austin Butler in der Titelrolle, die Emotionalität und Empathie in einen Film bringt, in dem dafür sonst wenig Platz wäre: Vermutlich die Darstellerleistung des Jahres. (ck)

Die Plätze 5-1 gibt es HIER!

-> Die besten Filme 2021

Teilnehmende Kritiker/innen: Natascha Juracsik, Christoph Brodnjak, Lena Wasserburger, Madeleine Eger, Paul Kunz, Cliff Lina, Christian Klosz

Titelbild: Fotomontage (Bilder aus The Nortman; Bones and all; Elvis)

Fotocredits Textbilder: (c) Netflix; (c)  2022 20th Century Studios / Eric Zachanowich / Searchlight Pictures; (c) Universal Pictures;