Mit acht Nominierungen ging “Casablanca” bei der Oscar-Verleihung 1943 ins Rennen und gewann am Ende in drei Kategorien: Bester Film – Beste Regie – Bestes adaptiertes Drehbuch. Darüber hinaus war der Film an den Kinokassen sehr erfolgreich, galt als Prestige-Projekt, brachte nicht zuletzt einer gewissen Ingrid Bergman internationale Anerkennung und avancierte mit den Jahren zu einem zeitlosen Klassiker.

Doch, wie kommt es, dass gerade dieses Melodram mit Kult gewordenen Zitaten wie “Ich seh’ Dir in die Augen, Kleines” und “Dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft” die Jahrzehnte überdauert hat? Man bedenke, neben den bereits erwähnten Sätzen gibt es noch “Die Deutschen trugen Grau und Du trugst Blau”, “Uns bleibt immer Paris” und “War das Artilleriefeuer oder klopft mein Herz so laut”. Und dann gibt es noch das ach so berühmte Lied “As time goes by”, intoniert und gesungen von Sam (Dooley Wilson), dem Klavierspieler.

Wer sich “Casablanca” anschaut, hat es nicht mit nur einem Film zu tun, sondern mit zweien, über denen hauchzart sogar ein dritter Film schwebt.

von Richard Potrykus

Erster Film

Einerseits gibt es das bereits erwähnte Melodram, jene berühmte Dreiecksgeschichte zwischen Ilsa Lund (Ingrid Bergman) und den beiden Männern Richard “Rick” Blaine (Humphrey Bogart) und Victor László (Paul Henreid). Rick betreibt ein Café in der marokkanischen Küstenstadt Casablanca. Er hat sich einen Mikrokosmos um sich herum erschaffen und kann gut davon leben, nicht zuletzt, weil er den örtlichen Polizeitpräfekten Capt. Louis Renault (Claude Rains) entsprechend schmiert.

Eines Tages trifft er dort auf Ilsa. Er kennt sie und hatte zuvor sogar eine Beziehung mit ihr in Paris. Ilsa ist nicht allein. Sie reist in Begleitung ihres Ehemannes Victor, von dem Rick bis dahin nichts wusste. Der Cafébetreiber ist davon schwer getroffen. Betrunken denkt er an die vergangene Zeit und trifft Ilsa hierauf ein weiteres Mal. Er will sie wiederhaben und auch Ilsa wird von ihren Gefühlen übermannt. Hin- und hergerissen zwischen ihrem Mann und ihrer abenteuerlichen Affäre weiß sie nicht, zu wem sie halten soll.

Doch dies ist nicht alles. Casablanca ist nicht irgendeine Stadt und Rick und Victor sind nicht irgendwelche Männer. Denn wir schreiben das Jahr 1941 und es herrscht Krieg. Casablanca liegt in Französisch-Marokko und während Frankreich bereits von der Deutschen Wehrmacht eingenommen worden ist, gilt in Marokko noch französisches Recht. Rick ist US-Amerikaner und aus unbekannten Gründen in Marokko. Er scheint sich vor etwas oder jemandem zu verstecken. Und Victor ist tschechoslowakischer Widerstandskämpfer, mehrfach aus einem Konzentrationslager geflohen und Kenner aller wichtigen Widerstandsgruppen in Europa.

Dies ist der zweite Film, der sich in “Casablanca” wiederfindet…

Zweiter Film

Schon vor der Zeit der aktiven Teilhabe am Zweiten Weltkrieg gab es in den USA und damit auch in den US-amerikanischen Kinos eine klare Position gegen den Faschismus in Europa. Die ersten Filme, die eine solche Botschaft transportierten, gab es bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, doch spätestens mit dem Fall Frankreichs im Sommer 1940 erstarkte die thematische Verlagerung hin zu progressiven Anti-Nazi-Propagandafilmen.

“Confessions of a Nazi Spy” ist wohl einer der ersten Filme dieser Art. Er stammt aus dem Frühjahr 1939, also noch vor dem Ausbruch des Weltkriegs, und war mit Edward G. Robinson sogar prominent besetzt. In der Folge wurde produziert, was die Studios hergaben. Kriminalfilme, Horrorfilme, Animationsfilme, Komödien, Tarzan, Lassie, nahezu alles bekam eine (anti-)nationalsozialistische Färbung und je nach Schwere des Bezugs gab es Widersacher, die entweder an Nationalsozialisten erinnerten oder solche direkt portraitierten.

Wenn vom Nationalsozialismus die Rede ist, dann ist nicht nur eine totalitäre Staatsführung gemeint. Der nationalsozialistischen Ideologie war eine Vielzahl von Menschengruppen ein Dorn im Auge, darunter Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und auch Sinti und Roma. Alles, was nicht in das Bild des arischen Menschen passte, wurde verfolgt, inhaftiert und umgebracht. Zwangsläufig führte dies zu einer riesigen Flüchtlingsbewegung, fort aus Deutschland und den besetzten Gebieten, fort aus Europa allgemein.

Meistens stehen in den Propaganda-Filmen Hollywoods Tod und Zerstörung im Vordergrund. Um Flüchtlinge geht es selten. Nicht so in “Casablanca”. Flucht und der Verlust von Heimat sind hier die zentralen Motive und das erste, womit sich der Film überhaupt beschäftigt:

“Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wandten sich viele Augen im eingeschlossenen Europa hoffnungsvoll oder verzweifelt der Freiheit Amerikas zu. Lissabon wurde der große Auswanderungshafen. Aber nicht jeder konnte direkt nach Lissabon gelangen. Und so entstand plötzlich eine Route, auf der die Flüchtlinge mühsam und auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen versuchten. Von Paris nach Marseilles. Über das Mittelmeer nach Oran. Dann mit dem Zug, mit dem Auto oder zu Fuß durch das nördliche Randgebiet Afrikas nach Casablanca in Französisch-Marokko…”

Dies ist der Anfang des Films, unterlegt mit einer dramatischen Overture und echten Wochenschau-Aufnahmen entführt “Casablanca” das Publikum nicht in die geschützte Illusion der Traumfabrik Hollywoods, sondern bringt Zeitgeschichte direkt in den Kinosaal. Seinerzeit war es üblich, vor dem eigentlichen Filmprogramm Nachrichtenformate zu zeigen, in denen auch über das Kriegsgeschehen berichtet wurde. “Casablanca” greift dies auf, integriert die Präsenz der Außenwelt in den Film und nimmt ihm ein Stück weit das Fiktive.

Natürlich bleibt nach wie vor im Bewusstsein, dass Humphrey Bogart nicht in Nordafrika ein Café betreibt und Claude Rains nicht plötzlich Teil der französischen Exekutive in Übersee ist, doch dass es Schicksale wie die von Rick und Renault gibt, dass es Menschen gibt, die gerade flüchten müssen und nicht die Möglichkeit haben, entspannt einen Film zu betrachten, bleibt im aktiven Bewusstsein des Publikums und verhindert das komplette Abdriften in das Melodram. Dies ist auch ein Teil der Magie “Casablancas”.

Diese Feingliedrigkeit, mit der der Film einerseits eine unerfüllte Liebesgeschichte erzählt und andererseits zahlreiche Einzelschicksale portraitiert, ermöglicht es, sich mit dem Film zu identifizieren: Das junge Ehepaar mit Geldproblemen, das alte Ehepaar mit der Sprachbarriere. Der Mann, der vom Leben gezeichnet dem rettenden Flugzeug hinterherschaut, für das er kein Ticket hat, die Frau, die versucht, Diamanten auf einem Schwarzmarkt zu verkaufen, der bereits gesättigt ist von zahllosen Juwelen. Was tun, wenn einem die Geldbörse gestohlen wird und diese Geldbörse das Letzte war, was man noch hatte?

Die Menschen im Kinosaal konnten an solche Schicksale anknüpfen. Gut möglich, dass sie selber auch mit Geldproblemen zu kämpfen hatten. Möglich, dass sie selbst oder die Eltern in die USA emigriert sind und sie mit ihrer jeweiligen Muttersprache nicht weiterkamen. Armut und Heimatlosigkeit lagen nah beieinander, in einer Zeit, in der die Weltwirtschaftskrise kaum zehn Jahre her ist.

“Casablanca” hebt sich auch ab von der Eindimensionalität eines Konfliktes zwischen Gut und Böse. Wenn ein Schleuser einem Mann erklärt, dass er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein und 15.000 Franc in bar zu zahlen habe, macht es keinen Unterschied, ob es Dezember 1941 ist oder Februar 2023.

Und die Nazis? Nun, in “Casablanca” sind sie keine Brüllaffen, wie in “Hangman also die” (US 1943), und auch die Botschaft des Films wird dem Publikum nicht ins Gesicht geschrien. Der Nationalsozialismus in “Casablanca” kommt nicht plakativ als wahnsinnige und eindimensionale Zerstörungsmaschine daher. Koch und die Epstein-Brüder, die Autoren des Films, demaskieren die Bedrohung aus Europa, indem sie ihr eloquente Züge verpassen. Major Heinrich Strasser (Conrad Veidt) ist ein gepflegter Mann, der gebildet wirkt. Er zeigt angenehme und gehobene Umgangsformen und scheint fern von den animalischen Trieben anderer Figuren gleichen Kalibers zu sein. Dennoch ist er ein eiskalter Mörder, ein perfider Mensch, der „das Reich“ und dessen Ideologie über alles stellt. In der Szene, in der Strasser zum ersten Mal auf Victor trifft, bezeichnet sich Victor als Tschechoslowake, worauf Strasser ihn mit den Worten “Sie waren Tschechoslowake. Nun gehören Sie zum Großdeutschen Reich”, korrigiert. Strasser zeigt sich hier als diabolischer Klugscheisser, bleibt aber stets ruhig.

„Casablanca“ hat viele Facetten und zusammen wirken sie wie eine Patchwork-Decke, ein Mosaik aus vielen kleinen Einzelepisoden. Dass das Konzept dennoch funktioniert, zeigt der dritte Film, der, wie eingangs erwähnt, hauchzart über allem schwebt.

Dritter Film

“Casablanca” ist durchsetzt von Humor. Spitze, entlarvende One-Liner und humoristische Slapstick-Einlagen weisen die Nationalsozialisten in ihre Schranken. Humor ist die Waffe, mit der dem Faschismus die Stirn geboten wird und es ist auch das Werkzeug, mit dem Figuren tief in sich selbst hineinblicken, um zu erforschen, auf welcher Seite sie stehen.

Renault ist das Paradebeispiel des Opportunisten. In hollywood’schen System, in dem es eindeutige Fronten gibt und nur ein Richtig und ein Falsch existieren, muss der Opportunist zwangsläufig untergehen.Es ist der sehr intelligente Humor, der Renault die Chance gibt, rechtzeitig die richtige Seite zu erkennen und zu wählen.

Während er anfangs noch zu Strasser meint, er würde sich nach dem Wind drehen, “und momentan weh[e] der günstigste Wind nun einmal aus Vichy”, ergibt sich wenig später bereits folgender kleiner Dialog:

Strasser:
“Ich habe den Eindruck, er ist auch nur so ein ungehobelter Amerikaner wie alle anderen.”

Renault:
“Sie sollten die ungehobelten Amerikaner nicht unterschätzen. Ich habe erlebt, wie bei ihrem Einsatz 1917 ganz schön Späne fielen.”

Und selbst Rick wird vom Humor dazu verleitet, seine selbstgewählte Isolation zu verlassen und eine Seite zu wählen.

Fazit

Drei Filme in einem machen aus “Casablanca” somit zu einer runden Sache, zu einem Film, der trotz seiner klaren Verortung zeitlos ist. Er kann mit und ohne politische Willensbildung gesehen werden und ist zurecht Teil eines kollektiven Gedächtnisses.

Am Schluss noch ein kleiner Fun Fact: Die wahrscheinlich beste Szene im “Casablanca” ist jene, in welcher Victor die Kapelle dazu bringt, die Marseillaise anzustimmen. Nicht nur wird hierbei die von den Nationalsozialisten gesungene “Wacht am Rhein” im musikalischen Widerstand niedergesungen, es ist gleichsam eine Kampfansage der gesamten Produktionsmannschaft an den Faschismus.

Eine Vielzahl von Nationen war an “Casablanca” beteiligt. Der Regisseur Michael Curtiz stammte aus Ungarn, die Drehbuchautoren aus den USA, waren aber jüdisch und hatten europäische Wurzeln. Der Komponist Max Steiner stammte aus Österreich. Von allen wesentlichen Sprechrollen waren nur Humphrey Bogart, Joy Page und Dooley Wilson geborene US-Amerikanerinnen. Die meisten Schauspielerinnen kamen aus dem Ausland und viele von ihnen waren geflohen.
Hier eine Auswahl:

Claude Rains – England
Sidney Greenstreet (Ferrari) – England
Paul Henreid – Italien [jüdisch, geflohen]
Conrad Veidt – Deutschland [jüdisch, geflohen]
Ingrid Bergman – Schweden
Peter Lorre (Ugarte) – Slowakei [jüdisch, geflohen]
S.Z. Sakall (Karl) – Ungarn [jüdisch, geflohen]
Madeleine Lebeau (Yvonne) – Frankreich [Ehemann war jüdisch, geflohen]
Leonid Kinskey (Sacha) – Russland [geflohen während der Oktoberrevolution]
John Qualen (Berger) – Kanada, Sohn norwegischer Einwanderer
Curt Bois (Taschendieb) – Deutschland [jüdisch, geflohen]
Marcel Dalio (Emil) – Frankreich [jüdisch, geflohen]
Helmut Dantine (Jan Brandel) – Österreich [Sozialist, geflohen]

Richard Potrykus betreibt auch den Film-Blog Celluloid Papers.

Bildquelle: imgbin