Nach der Ohrfeige ist vor der Regelanpassung: Während von der letztjährigen Verleihung am ehesten die Attacke auf Chris Rock in Erinnerung geblieben ist, werfen die Oscars 2024 längst ihre Schatten voraus. Ab nächstem Jahr wird Diversität groß geschrieben, insbesondere in der Kategorie „Bester Film“. Nicht, dass die Academy Award in den letzten Jahren eh schon massiv an Glaubwürdigkeit und Stellenwert eingebüßt hätten, aber spätestens ab 2024 steht dann nicht mehr die Qualität der Filme im Vordergrund, sondern vielmehr Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Hautfarbe der Mitwirkenden. Eine ehrenwerte Idee, miserabel umgesetzt.
Umso gespannter durfte man auf die „letzte echte“ Verleihung schauen, wie sie süffisant von Kritikern getauft wurde. Und rein cineastisch kann das vergangene Jahr durchaus als abwechslungsreich und gelungen bezeichnet werden. Das schlägt sich auch in den Nominierungen wieder, die sich genreübergreifend gestalten und sowohl ganz großes Blockbusterkino (Top Gun: Maverick, Avatar: The way of water), als auch deutliche speziellere Produktionen (Tàr, The Banshess of Inisherin) würdigen. Drum herum das typische Bild: Stars und Sternchen in Hülle und Fülle, exklusive Kleider, Klunker und das who is who der Branche. Durch den Abend leitet, zum dritten Mal, US-Superstar Jimmy Kimmel, der als Einleitung handzahme Gags serviert, die das Publikum nur bedingt amüsieren können. Falls doch zu stark am Ohrfeigenbaum gerüttelt wird, soll eine eigens eingerichtete Task Force weitere Dramen verhindern.
Die ersten Preise gehen an Guillermo Del Toro’s Neuinterpretation von “Pinocchio” und Ke Huy Quan, der für seine Nebenrolle in “Everything everywhere all at once” ausgezeichnet wird, sichtlich ergriffen die Bühne stürmt und mit stehenden Ovationen bedacht wird. Das weibliche Pendant entstammt dem selben Film und heißt Jamie Lee Curtis, die sich brav bei allen bedankt und vor Freude ein paar glaubwürdige Tränen vergießt. Es folgen die Auszeichnungen für die beste Dokumentation und den besten Kurzfilm. Besonders der Preis für “Nawalny” samt eindringlicher Rede sorgt für ein erstes ernstzunehmendes Highlight, abseits von Show-Business und Hollywood-Gute-Laune.
Dann wird es techischer und “Im Westen nichts Neues” sammelt in Person von James Friend den ersten Goldjungen ein. Die Kameraarbeit wird prämiert, für die leicht wirre Rede gibt es wohl eher keine Preise. Danach wird “The Whale” für Make-Up und Frisuren ausgezeichnet, die besten Kostüme hat Ruth Carter für “Black Panther: Wakanda Forever” entworfen. Nach einem weiteren Oscar für “Im Westen Nichts Neues”, der als bester ausländischer Film geehrt wird, folgen die Auszeichnungen für zwei Kurzfilme, respektive Trickfilm und Dokumentation. Danach beweist Lady Gaga mit ihrer Darbietung des Top Gun: Maverick Titelsongs, dass sie ihren Hauptberuf nicht verfehlt hat. Ein starker Auftritt eines starken Songs. Bis dato ansonsten eine ziemlich glattgebügelte Veranstaltung von klassischer Eleganz, aber auch von erhabener Langeweile. Auch bei den Auszeichnungen das gleiche Bild: wenn “Im Westen nichts Neues” nominiert ist, gewinnt er auch. Nach dem besten Produktionsdesign geht auch die beste Filmmusik nach Deutschland. Bei den Spezialeffekten muss sich der Netflix-Film dann aber “Avatar: The way of water” geschlagen geben. Wenn James Camerons Werk einen Preis verdient hat, dann diesen.
Die “Big Five” sind auch um mittlerweile 3:30 Uhr noch in weiter Ferne, stattdessen gibt Rihanna ihren Song aus “Black Panther: Wakanda Forever” zum Besten. Den Oscar für das beste Drehbuch schnappen sich “The Daniels” für ihre kuriose Multiversums-Familienkomödie – auch das war irgendwo zu erwarten. Das beste adaptierte Drehbuch stellt “Die Aussprache”. Der beinahe erdrückende Sound von “Top Gun:Maverick” wird ebenso gekürt und hat sich die Trophäe für den “Besten Sound” wahrlich verdient. Apropos Sound, der beste Filmsong heißt “Naatu Naatu”. Eine dicke Überraschung, denn damit haben Weltstars wie Lady Gaga oder Rihanna das Nachsehen. Es folgt eine weitere musikalische Darbietung: Zu Ehren der im vergangenen Jahr verstorbenen Menschen vor, hinter und abseits der Kamera, singt Lenny Kravitz eine berührende Nummer, nach der die letzte Kategorie vor den Königskategorien ansteht. Für den besten Schnitt wird abermals “Everythin everywhere all at once” prämiert.
Idris Elba und Nicole Kidman beginnen mit der besten Regie, für die abermals Daniel Kwan und Daniel Scheinert auf die Bühen zitiert werden. Offenbar keine allzu überraschene Ehrung, denn die nachfolgende Rede wirkt wie mehrfach geprobt und will gefühlt nicht enden. Nach welchen Kriterien die Musik manche Reden abwürgt – und manche eben nicht – wird ein Rätsel bleiben. Für ihre schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle dürfen Brendan Fraser und Michelle Yeoh je einen Goldjungen mit nach Hause nehmen. Die Rede von Fraser gehört zu den emotionalen Höhepunkten des Abends. Wie sympathisch kann ein Mann sein? Und auch Yeoh hat mit den Tränen zu kämpfen als sie ihren Preis entgegen nimmt. Alles deutet also auf “Everything everywhere all at once” als besten Film hin? Und so kommt es auch. Harrison Ford beschließt die Veranstaltung mit dem siebten Oscar. So endet die 95. Oscar-Verleihung so, wie man es vorher erwarten durfte. Nicht auszudenken wie viele Gewinner und Gewinnerinnen es heute nicht gegeben hätte wenn die neuen Regeln schon gelten würden. (cl)

Alle Gewinner und Gewinnerinnen im Überblick:
- Bester Film: Everything everywhere all at once
- Bester Schauspieler: Brendan Fraser (The Whale)
- Beste Schauspielerin: Michelle Yeoh (Everything everywhere all at once)
- Beste Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert (Everything everywhere all at once)
- Bester Nebendarsteller: Ke Huy Quan (Everything everywhere all at once)
- Beste Nebendarstellerin: Jamie Lee Curtis (Everything everywhere all at once)
- Bester ausländischer Film: Im Westen nichts Neues
- Bester Dokumentarfilm: Nawalny
- Bester Original-Song: Naatu Naatu (RRR)
- Beste Kostüme: Ruth Carter (Black Panther: Wakanda Forever)
- Bestes Original-Drehbuch: Daniel Kwan, Daniel Scheinert (Everything everywhere all at once)
- Bestes adaptiertes Drehbuch: Sarah Polley (Die Aussprache)
- Beste Kamera: James Friend (Im Westen nichts Neues)
- Beste Spezialeffekte: Avatar: The Way of Water
- Bester Trickfilm: Pinocchio
- Bester Sound: Top Gun: Maverick
- Beste Kurz-Dokumentation: The Elephant Whisperers
- Bester Kurz-Trickfilm: The Boy, the Mole, the Fox and the Horse
- Bester Kurzfilm: An Irish Goodbye
- Beste Original-Filmmusik: Volker Bertelmann (Im Westen nichts Neues)
- Bester Schnitt: Paul Rogers (Everything everywhere all at once)
- Bestes Produktionsdesign: Im Westen nichts Neues
- Bestes Make-up und beste Frisuren: Adrien Morot, Judy Chin, Anne Marie Bradley (The Whale)