Website-Icon Film plus Kritik – Online-Magazin für Film, Kino & TV

Oscar Streaming – Ein Heimkino-Fest(ival) / Programm 5: Heroes & Anti-Heroes

Die Oscars 2023 sind zwar bereits Geschichte (hier zum Nachlesen), aber die Geschichte dieses Filmpreises ist weiterhin relevant. Zur Verleihung vor einigen Wochen haben wir 4 Streaming-Programme ( 1, 2, 3, 4) präsentiert, die Oscar-nominierte und -prämierte Filme thematisch zusammenfassen und als Anknüpfungspunkt für Interessierte dienen sollten. All diese Filme waren (sind) auf einer der drei größten Streamingplattformen Netflix, Amazon Prime und Disney+ verfügbar.

Heute reichen wir ein 5. Programm nach, dessen Publikation sich bisher aus Zeitgründen nicht ausgegangen ist, dessen Titel aber weiterhin dringende Empfehlungen darstellen. Alle genannten Filme sind weiterhin online verfügbar.

von Christian Klosz

Programm 5: Heroes & Anti-Heroes

Die letzten 5, 6 Jahre sahen eine Verengung von Themen und Darstellungsformen in Filmen und Serien, insbesondere im US-Kino: Eine unsicher und krisenhaft gewordene Welt führte selten zu besonderer Kreativität oder dem Mut, aktuelle “unbequeme Wahrheiten” anzusprechen und darzustellen, “wie sie sind” (Ausnahmen wie “First Reformed” oder “Don’t look up” bestätigen die Regel), in all ihren Ambivalenzen (wie etwa “New Hollywood”). Die Sehnsucht war groß nach eindeutigen, moralisch klar umrissenen Filmen, in denen auch eindeutig war, wer nun die “Guten” und wer die “Bösen” sind.

Eine neue Biederkeit und Formelhaftigkeit zog ein ins (Mainstream-)Kino, das dem Publikum Orientierung bieten wollte, die Zeit der kreativen Experimente war vorbei, alles eindeutig sichtbar an der Masse der gleichförmigen Superhelden-Filme, “Agenda-Filme”, aber auch an der Flut der Sequels und Reboots, die an Bekanntes anknüpfen sollen, auf eine “bessere Zeit” verweisen, um das durch die Gegenwart gebeutelte Publikum nicht “zu überfordern”. Ecken und Kanten wurden und werden abgeschliffen, das Stilmittel der Provokation ist verpönt und “mutige Filme”, die aufrütteln und schockieren, gibt es kaum noch. Wenngleich kultursoziologisch nachvollziehbar, der Qualität der Filme war das selten zuträglich: Eskapismus statt Realismus.

Ein Blick in die Filmgeschichte zeigt aber, dass die nachhaltigsten Werke oft jene waren, die provozierten, sich gegen den aktuellen Zeitgeist oder das, was akzeptiert, toleriert und gewünscht war, stellten und versuchten, die Wirklichkeit in ihren Ambivalenzen, ihren Höhen und Tiefen, den Licht- und Schattenseiten darzustellen.

Insbesondere der im Kino des “New Hollywood” populäre Typus des “Anti-Helden” war Ausdruck eines Verständnisses für die fließenden Grenzen zwischen “Gut” und “Böse”, für die Komplexität der menschlichen Psyche, die Notwendigkeit einer Dunkelheit bei der Genese von “Helden”, die “inneren Dämonen” im Unterbewusstsein, die gute Intentionen oft zu monströsen Konsequenzen werden ließen – und umgekehrt.

Die aktuelle Weltlage und Vorgänge in der Gesellschaft machen es insbesondere lohnenswert, einen ersten oder zweiten Blick auf folgende Werke zu richten, die von “Anti-Helden” erzählen, die durch ihre Umwelt, aber auch ihr Innenleben um Äußersten getrieben werden – im Positiven wie im Negativen.

Serpico (1973) auf Amazon Prime Video / ARTHAUS+ Channel (Gratiszeitraum)

Oscar-Nominierungen für Al Pacino (Bester Hauptdarsteller), Bestes Drehbuch

Harter, ultra-realistischer Polizei-Thriller mit einem fantastischen Al Pacino in der Hauptrolle, der die personifizierte Verzweiflung des idealistischen, liberalen US-Bürgers gibt – der an dem ihn umgebendem (höchst korrupten) System zerbricht: Polizist Frank Serpico (Pacino) kämpft mit verzweifelter Wut gegen allgegenwärtige Korruption im Polizeiapparat, legt sich mit Kollegen an, gegen Ende nimmt sein gnadenloser Idealismus beinahe selbstzerstörerische Züge an. Er scheitert, sein Idealismus zerschellt an den “harten Tatsachen” des Lebens und dieses Systems und als Belohnung für seine Mühen erhält er eine Kugel in den Kopf.

-> Text zum Film

Chinatown (1974) auf Amazon Prime Video / Paramount+ Channel (Gratiszeitraum)

Oscar für das Beste Originaldrehbuch; Oscar-Nominierungen für Bester Film, Bester Hauptdarsteller (Jack Nicholson), Beste Hauptdarstellerin (Faye Dunaway), Beste Regie, Beste Kamera, Bestes Szenenbild, Bester Ton, Beste (dramatische) Filmmusik, Bester Schnitt, Bestes Kostüm-Design

„An Raymond Chandlers Kriminalromanen orientiert, in Stil und realitätsbezogener Darstellung jedoch weit darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit der amerikanischen Wirklichkeit nicht nur der 30er Jahre. Zugleich ein Einblick in die psychologische Befindlichkeit einer durch und durch maroden Gesellschaft.” Lexikon des internationalen Films

GoodFellas (1990) auf Netflix

Oscar für Joe Pesci (Bester Nebendarsteller), Oscar-Nominierungen für Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bester Schnitt, Lorraine Bracco (Beste Nebendarstellerin)

Laut Martin Scorsese eine Geschichte über “good people forced to do bad things”, realistischer als der pathetische und mitunter romantisierende “Pate”.

Kulminationspunkt der Karriere des Martin Scorsese: In seinem furiosen, gehetzten und temporeichen Mafia-Epos wird in knapp zweieinhalb Stunden eine Epoche porträtiert, ein Milieu detailreich rekonstruiert, das der Regisseur seit seiner Kindheit kennt; eine Kumulation irrer, getriebener Charaktere, die, leuchtende Dollar-Zeichen vor Augen, jegliche Moral über Bord werfen und sich in ein Leben voll Mord und Exzess werfen, das sie schließlich aus der Bahn werfen wird. Faszinierend-abstoßend, schmerzhaft-unterhaltsam und unendlich dicht und detailreich.

„Aus der Perspektive eines ehemaligen Gangsters entwickelte Beschreibung einer ‚Karriere‘ in der Mafia, die in vielen Episoden detailreich und milieugenau die Spielregeln des Verbrechens analysiert. Durch präzisen Einsatz der filmischen Mittel ergibt sich eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Thema, gleichermaßen emotional packend und distanziert reflektierend; bisweilen drastisch in der realistischen Darstellung.“ Lexikon des internationalen Films

American Beauty (1999) auf Amazon Prime Video / Paramount+ und ARTHAUS+ Channel (Gratiszeitraum)

Oscars für Bester Film, Beste Regie, Kevin Spacey (Bester Hauptdarsteller), Beste Kamera, Bestes Originaldrehbuch; Oscar-Nominierungen für Annette Bening (Beste Hauptdarstellerin), Bester Schnitt, Beste Filmmusik

Der inzwischen geschmähte Kevin Spacey brilliert in Sam Mendes melancholischer, tiefschwarzer Tragik-Komödie, die von einem Mann erzählt, dem das Leben zuwider ist, seine öde Ehe, sein langweiliger Job, und überhaupt die ganze Welt, und der sich mutig und voll und ganz seiner Mid-Life-Depression hingibt. Neben dem grandiosen Spacey ist “American Beauty” auch in den Nebenrollen großartig besetzt, Annette Bening, Chris Cooper oder Wes Bentley liefern nicht minder beeindruckende Performances ab. Am Ende kommt es, wie es kommen muss, und trotz allem ist “American Beauty” ein wunderschöner Film, der auch etwas Hoffnung macht.

„Der ironische Blick hinter die äußerlich glänzende Fassade von Kleinstadt-Amerika wird durch eine komplementäre Erzählebene anteilnehmend und mit neugieriger Sensibilität zu einem komplexen und hintergründigen Menschen- und Generationsporträt ausgeweitet. Ein höchst bemerkenswerter Erstlingsfilm, der stilistisch und darstellerisch gleichermaßen überzeugt.“ Lexikon des internationalen Films

Fight Club (1999) auf Disney+

Oscar-Nominierung für Bester Tonschnitt

Auf der Grundlage von Chuck Palahniuks Roman schuf David Fincher eine angemessen nihilistische Auseinandersetzung mit und Kritik an der spätkapitalistischen Konsum- und Selbstdarstellungsgesellschaft (die seither bekanntlich neue Exzesse feierte), deren einziger Ausweg kreative Zerstörung heißen muss, die schließlich selbst zum Faschismus führt: “Fight Club” ist auch eine postmoderne Kritik an und ein kulturpessimistischer und zynischer Blick auf “Erlösungsideologien” aller Art, die laut “Fight Club” gezwungenermaßen zu dem werden müssen, was sie ursprünglich bekämpfen wollten. 1999 ein filmischer 0-Punkt und Abgesang auf die Generation X, heute von der Realität überholt.

Catch me if you can (2003) auf Netflix

Oscar-Nominierungen für Christopher Walken (Bester Nebendarsteller), Beste Filmmusik

Vielleicht einer von Spielbergs erwachsensten Filmen, der die (erfundene, wie wir inzwischen wissen) Geschichte von Frank Abagnale Jr. erzählt, der von Zuhause ausreißt, um als falscher Pilot, Arzt, Anwalt die Welt zu bereisen und sich Untertan zu machen. Dahinter liegt ein junges, gekränktes Ego, das den Zusammenhalt seiner Familie verloren hat (eines von Spielbergs zentralen Themen) und durch Lügen und Tricks diese verlorene Sicherheit zu wiederzufinden gedenkt. Überzeugend gespielt und unterhaltsam erzählt.

-> Text

Aviator (2004) auf Amazon Prime Video / diverse Channels (Gratiszeitraum)

Oscars für Cate Blanchett (Beste Nebendarstellerin), Bestes Szenenbild, Beste Kamera, Beste Kostüme, Bester Schnitt; Oscar-Nominierungen für Bester Film, Beste Regie, Leonardo DiCaprio (Bester Hauptdarsteller), Alan Alda (Bester Nebendarsteller), Beste Originaldrehbuch, Bester Tonschnitt

“Höhenflug und Absturz des Howard Hughes, Überflieger, ­Flug­fanatiker, Tycoon, Regisseur, Frauenheld. Wobei „Höhenflug“ wie „Absturz“ faktisch und metaphorisch gesehen werden können in diesem Werk, das sich des kümmerlichen Genres Biopic bedient, um ein Grandeur-Destillat daraus zu brennen: Scorseses Citizen Kane, Film eines Getriebenen über einen Getriebenen. Noch schneller, höher, besser: Amerikas Traum als Hybris und Wahn – und Wahnsinn. Hughes ist Himmelstürmer, Legende zu Lebzeiten und jener Mann, in dessen Siegermiene Züge von Misstrauen, ­Irritation und Pein zu flackern beginnen. Rise and fall: eine via ­dolorosa. Die Hand, die eben noch die Chromhaut des Flugzeugs liebkoste, müht sich in vergeblicher Qual, die eigene Haut keimfrei zu waschen. Wie ein Mythos erkrankt und die Vergötzung der Oberfläche in Verrücktheit kippt. Der Held des 20. Jahrhunderts: Ikarus, zerschellt. Als Opfer seiner Zwänge hockt er rettungslos im Gefängnis klinisch reiner Paläste. Die Hölle sind wir.” Harry Tomicek, Filmmuseum Wien

-> Text

Inside Llewyn Davis (2013) auf Amazon Prime Video / ARTHAUS+ Channel (Gratiszeitraum)

Oscar-Nominierungen für Beste Kamera, Bester Ton

“While often funny and alive with winning performances, Inside Llewyn Davis finds the (Coen) brothers in a dark mood, exploring the near-inevitable disappointment that faces artists too sincere to compromise—disappointments that the Coens, to their credit, have made a career out of dodging.” Alan Scherstuhl, The Village Voice

Foxcatcher (2014) auf Amazon Prime Video

Oscar-Nominierungen für Beste Regie, Bestes Drehbuch, Bestes Make-Up, Steve Carell (Bester Hauptdarsteller), Mark Ruffalo (Bester Nebendarsteller)

“Foxcatcher” erzählt die tragische, wahre Geschichte des Millionenerben John du Pont, der sich neben dem Briefmarkensammeln, der Ornithologie und Philanthropie dem Wrestling verschrieben hat, und seinem “Team Foxcatcher”, das am großen du Pont-Anwesen trainiert, und dem er Geld und Mittel zur Verfügung stellt, als großer Mentor dienen will. Im Laufe des Films wird vor Allem eines klar: Du Pont ist ein bizarrer, schwer gestörter Charakter, der zwar mitunter gute Absichten verfolgen mag, die sich aber in immer seltsamer werdendem Verhalten entäußern. Das Resultat ist ein höchst verstörender Film, ein verkehrter “Citizen Kane”, der seinen Protagonisten nicht in Einsamkeit und Depression, sondern in schizophrenen Wahn schickt. Eine hervorragend gespielte, hypnotische psychologische Studie über Verrücktheit, geistigen Verfall, Ohnmacht und Einsamkeit.

-> Kritik

Corpus Christi (2019) auf Amazon Prime Video

Oscar-Nominierung als Bester internationaler Film

Die Handlung von “Corpus Christi” folgt dem 20-Jährigen Daniel, der aus der Jugendstrafanstalt entkommt und durch Zufall illegal den Posten als Priester in einer kleinen Gemeinde annimmt. Ohne Ausbildung, ohne Erfahrung kommen seine Predigten von Herzen, die Resonanz ist groß, Daniel wird von seinen Schäfchen geliebt. Fragen nach Richtig und Falsch beantwortet er nach dem christlichen Dogma: Liebe deinen Nächsten. Doch seine Vergangenheit lässt ihn nicht los – Eine Geschichte, die ernste Themen anspricht, ohne dabei mit dem Zeigefinger zu wedeln. Ein Hauptdarsteller, der eine absolut unaufhaltsame Performance liefert. Eine emotionale Tiefe, die sich dem Zuschauenden durch diverse Szenen im Gedächtnis festsetzt: Dies sind die Zutaten, die „Corpus Christi“ zu einem großartigen Film und einem absoluten Geheimtipp machen. (Marius Ochs)

-> Kritik

Nightmare Alley (2021) auf Disney+

Oscar-Nominierungen für Bester Film, Beste Kamera, Bestes Kostümdesign, Bestes Szenenbild

„Das detailfreudig ausgestattete, überzeugend gespielte Remake eines Film-Noir-Klassikers handelt mit überraschenden Bildern und exzentrischen Figuren von Gier und Karrieresucht, Gewissenlosigkeit und Schuld.“ Filmdienst

“(…) lovingly and passionately crafted (…) truer to the animating spirit of film noir than the many ‘homages’ that have been made over the years and are still being made now” Martin Scorsese

-> Kritik

(alle Filmtexte von Christian Klosz, außer anders angegeben)

Bildquelle: (c) imgbin, außer Nightmare Alley (c) Searchlight Pictures

Die mobile Version verlassen