Treppen hochzulaufen ist seit diesem Film nicht mehr dasselbe – Vor fast 50 Jahren kämpfte sich Sylvester Stallone mit seinem Hollywood-Durchbruch „Rocky“ in die Herzen von Kinobesuchern weltweit und gewann sogar drei Oscar-Preise, darunter den für den Besten Film. Doch obwohl der Boxer-Streifen allgemein sehr beliebt ist, gibt es bis heute Kritiker, die behaupten, die begehrteste Kategorie der Academy Awards hätte einen anderen Gewinner hervorbringen müssen. Was liegt hinter dieser Kritik – und ist sie berechtigt?

Von Natascha Jurácsik

Fast jeder kennt die Geschichte von Rocky Balboa (Sylvester Stallone), dem verarmten Boxer, dessen Träume vom großen Durchbruch sich zu erfüllen scheinen, als er gegen den berühmten Apollo Creed (Carl Weathers) in einem Titelkampf in den Ring steigen soll. “Rocky” ist ein Filmklassiker und die prototypische Story vom Erfolg durch harte Arbeit hat ihren Platz im kollektiven (kulturellen) Gedächtnis gefunden. Zwischen Trainingsmontagen und Motivationsreden trifft Rocky auch die Liebe seines Lebens Adrian (Talia Shire) und begreift, dass „Erfolg“ mehrere Bedeutungen haben kann.

Die Story hat sich Drehbuchautor und Hauptdarsteller Sylvester Stallone nicht einfach aus dem Hut gezogen, denn er befand sich damals in einer sehr ähnlichen Lage wie sein Protagonist: Ohne Geld und ohne größere Jobs versuchte er sich als Schauspieler durchzusetzen und erlebte die vermutlich einsamsten Monate seines Lebens. Die persönliche Inspiration ist vor allem in der Darstellung von Rockys Situation und seines Charakters spürbar, welche beide detailreich und emotional auf die Leinwand gebracht werden.

“Rocky” war ein Überraschungserfolg, gilt heute als Klassiker, hat zahllose Fortsetzungen nach sich gezogen und die Titelfigur und sein persönlicher Kampf gelten als ikonisch. Damals galt insbesondere sein Abräumen mehrere Hauptpreise bei den Oscars als kontroversiell. Das hatte viel mit den restlichen Nominierten im Jahr 1976 zu tun, unter denen sich auch Martin Scorseses Meisterwerk „Taxi Driver“ befand, ein Film, der als definierender Moment der US-amerikanischen Filmwelt und “New Hollywoods” gilt und bis heute sowohl von Kritikern, als auch Fans viel Zuspruch erntet. Hauptdarsteller Robert De Niro gewann zwar bereits 1975 einen Academy Award für seine Rolle in Francis Ford Coppolas Fortsetzung von „The Godfather“, zementierte mit der Darstellung des mental instabilen Travis Bickle allerdings endgültig seinen Status als einer der besten Schauspieler seiner Generation. Mit dem Fokus auf gesellschaftliche Randexistenzen, dem unromantischen Blick auf das Stadtleben, unvergesslicher Musik von Bernhard Herrmann und einem der bekanntesten Anti-Helden der Filmgeschichte ist es nur wenig verwunderlich, warum so mancher Filmliebhaber sich über den ausgebliebenen „Bester Film“-Gewinn aufregt. Das Schicksal sollte sich für Martin Scorsese in den folgenden Jahrzehnten allerdings oft wiederholen.

Warum hat „Rocky“ trotz all der Vorzüge von Scorseses Beitrag dann dennoch gewonnen? Eindeutig lässt sich hierauf selbstverständlich keine Antwort finden, doch erlaubt man ein wenig spekulatives Argumentieren – natürlich im nachvollziehbaren Rahmen –, findet sich eventuell etwas mehr Verständnis für die Entscheidung der Academy. Böse Zungen könnten den Sieg auf eine sentimentale Anwandlung seitens der Juroren schieben, die sich von dieser typischen American Dream-Geschichte “Rocky” angesprochen fühlten. Gründe für den (immer noch) anhaltenden Erfolg des Stoffes und der Figur gibt es viele, etwa den fast kindlichen Charme des nominellen Boxers, die gelungene Darstellung eines Schicksals im Wandel zum Guten oder der von der Geschichte ausgehende Motivationsfaktor.

Aber was „Rocky“ als Monumentalwerk des US-amerikanischen Films ausmacht ist der Aufbau: Betrachtet man diesen näher, fällt schnell auf, dass er sich an keine bis dahin bekannte dramaturgische Formel für Screenplays hält – und somit eigentlich nicht funktionieren sollte. Der entscheidende Moment der Handlung, nämlich das Angebot des Kampfes gegen Creed und der daraus hervorgehende potenzielle Erfolg als Boxer, geschieht erst nach fast einer ganzen Stunde Spielzeit, kurz vor der Hälfte des gesamten Films. Wer sich auch nur ein kleines bisschen mit Drehbüchern oder Storylines auskennt, weiß, dass dies ungewöhnlich spät ist, da der Katalysator der Haupthandlung eigentlich zu Beginn eines Werks zu finden sein sollte, um den überwiegenden Großteil des Gezeigten mit einem klar erkennbaren, inhaltlichen Sinn zu versehen und die Motivationen der Charaktere zu determinieren.

Folgt man diesem Schema, ist der Großteil der ersten Hälfte von „Rocky“ im Grunde überflüssig. Statt ein bis zwei Aufnahmen des Titelhelden wie er eine verlassene Straße hinabspaziert gibt es vier. Immer wieder wird seine Einsamkeit verdeutlicht durch Szenen wie jener, in denen er mit seinen Fischen und alten Familienfotos einseitige Gespräche führt. Dass Rocky im Grunde ein gutes Herz hat, trotz seiner notbedingten Arbeit als Geldeintreiber, wird ebenfalls mehrere Male gezeigt, indem er immer wieder anderen, scheinbar unbedeutenden Nebenfiguren hilft. Auch seine verzweifelte Lage wird dadurch hervorgehoben, da er zunächst nicht nur bei seinem späteren Trainer Mickey (Burgess Meredith) verpönt ist, sondern auch von zahlreichen anderen Charakteren, unter anderem einem kleinen Mädchen, dem er hilft. Solche thematischen Wiederholungen wirken auf Papier repetitiv und langatmig, doch auf der Leinwand sorgen sie im Falle von „Rocky“ dafür, dass das Publikum genügend Zeit mit dem Protagonisten verbringt, um tiefreichende Empathie für ihn und seine Situation zu entwickeln – was sich am triumphalen Ende bezahlbar macht. Würde das Kampfangebot früher eintreffen, ohne diese „überflüssigen“ Szenen, hätte das Finale keine solch emotionale Wirkung beim Publikum erzielt. Und wäre sehr viel leichter zu vergessen gewesen.

Fazit

Sylvester Stallone hat mit “Rocky” als unbekannter Drehbuchautor aus dem wortwörtlichen Nichts eine Geschichte geschaffen, die Hollywood und der Academy gezeigt hat, dass ihre eigenen Regeln zum effektiven Erzählen einer Handlung weitaus weniger universell sind, als gedacht. Anstatt sich an Formeln und beliebte Vorgaben zu halten, orientierte sich Stallone an seinen eigenen Erfahrungen und versah seinen Film mit einer Tiefe, die in den fähigen Händen des Regisseurs John G. Avildsen in einem Werk für die Ewigkeit resultierte. Darüber, ob nun doch „Taxi Driver“ der bessere Beste Film war, lässt sich streiten, doch Tatsache ist, dass die gelungene Unkonventionalität von „Rocky“ zurecht sowohl aus kritischer Sicht, als auch kommerziell belohnt wurde.

Bildquelle: imgbin