Der Wald östlich von Minsk, Belarus verändert 1986 plötzlich seine Farbe, von Grün zu Rot. Was man in früheren Zeichen als böses Omen oder Zeichen der Götter verstanden hätte, ließ sich aber logisch erklären: Im angrenzenden Tschernobyl explodierte ein Reaktor und Strahlung verseuchte den Wald. Fraglich, ob der Schrecken und die Ehrfurcht durch die wissenschaftliche Erklärung weniger wurden. Der Ort ist bis heute kontaminiert, Zeuge eines versteckten Traumas. Und so sind der Wald und seine düstere Atmosphäre der wichtigste Ort für das Regiedebüt “1986” von Lothar Herzog.
von Marius Ochs
Elena ist Studentin, Kellnerin, Fotografin, Liebhaberin und Tochter. Der Film zeigt, wie sie zur Schmugglerin wird. Ihr Freund betrügt sie, genau wie sie ihn. Ihre Kunst wird abgelehnt, ihre Bilder seien zu düster für ihr junges Alter. Ihr Vater sitzt im Gefängnis. Sie braucht Geld, also versucht sie sein altes „Business“ weiterzuführen: Metallschmuggel aus der verseuchten Zone, und so warten im Wald sowohl Vergangenheit, als auch Zukunft auf sie. Beides keine schönen Orte in einem Staat wie Belarus. In der Vergangenheit wurde ihr Vater dort von genau den Männern verraten, mit denen sie jetzt handeln muss. Und in der Zukunft warten Gefahr und Abhängigkeit von eben jenen finsteren Gestalten, die sie tief im Wald trifft.

Doch auch an anderen Orten ist die Stimmung schlecht. Im Hörsaal zeigt sich, wie der Staat in den Alltag eingreift – das System sei gut, sagt jeder Dozent. Und auch die Justiz ist bestechlich, der Vater hat kaum eine Chance, freizukommen. Der Film wurde zwar schon vor den Protesten aufgrund der gefälschten Wahlen in Belarus gedreht, doch die niederdrückende Atmosphäre, die in einem solchen Regime herrscht, ist in Elenas Geschichte deutlich zu spüren. Nicht umsonst sind junge Frauen das Gesicht der Demonstrationen und der hoffentlich demokratischen Zukunft des Landes. Herzog hat mit “1986” einen Film gedreht, der also hochaktuell ist. Das sagt aber erst einmal wenig über die Qualität des Films aus, der durchaus einige Arthaus-Klischees bedient. Es passiert wenig on-screen und wenn, dann nur langsam und fragmentiert. Jedes Gespräch ist bedeutungsschwer, jeder Satz scheint ein eigenes Gewicht haben zu müssen. Eindeutige Festlegungen in der Geschichte zeigt der Film nicht, das Ende des Films bleibt dieser Ambiguität entsprechend offen. Außerdem tappt er in die Portrait-Falle: Neben Elena bleiben fast alle Figuren blass und einseitig.
Dafür ist die Protagonistin interessant genug, um den Film zu tragen und sehenswert zu machen. Daria Mureeva haucht dem kontrastreiches Dasein ihres Charakters Leben ein. Zwischen Stadt und Land, staatlich propagiertem Reichtum und tatsächlicher Armut, Hörsaal und Club, Liebe und Promiskuität spürt man, dass sie ausbrechen will, aber nicht kann. Aufgerieben zwischen all den Widersprüchen und Extremen kann Elena nur düstere Bilder schießen, die ihre realistische Sicht auf ihr Leben spiegeln. Liebe und Familie bedeuten Hoffnung.
Herzog begleitet das meist mit einer leicht wackeligen Handheld-Kamera, Elena im Fokus. Diese persönliche, figurenzentrierte und stellenweise fast dokumentarische Art der Bilder sorgt für eine Nähe, die jedoch auch immer wieder durch kalte Stadtbilder und mystische Landschaftsbilder kontrastiert wird. Nur kann die Geschichte das Versprechen dieser schönen Bilder nicht immer ganz einlösen. Die beiden Hauptstränge der Handlung – unglückliche Liebe und verzweifelter Schmuggel – wollen partout nicht ineinandergreifen. Aus diesem Nebeneinander entsteht zwar trotzdem noch ein interessantes Bild von Elena und ihrem Leben in Belarus, doch der Film erreicht kaum eine Tiefe, die dem Format angemessen wäre.

Fazit
Schöne Bilder und gute Darsteller machen Lothar Herzogs Debüt “1986” zu einem gelungenen Arthaus-Debüt, auch wenn die langsame, kontrastreiche Inszenierung ihre Themen nicht immer konsequent genug ausspielt. Vieles bleibt angedeutet, eine wirkliche Tiefe erreicht der Film aber nie. So bleibt ein interessantes und spannendes Portrait des Lebens einer jungen Frau vor den Protesten in Belarus, das vor allem durch schöne Bilder punktet, jedoch in der Erzählweise der Geschichte einiges an Potenzial verschenkt.
Bewertung
(64/100)
Bilder: ©Déjà-vu film UG