Aufgrund von Zeitmangel und einem Überangebot an Filmen können wir nicht jedes sehenswerte Werk der Berlinale 2020 mit einem eigenen Text würdigen. Deshalb sollen hier unsere Highlights und besondere Film-Tipps gesammelt werden, die als unbedingte Empfehlungen ans Publikum gelten. Die Liste wird stetig ergänzt.

Texte von Christian Klosz

#1: „Time to hunt“ („Sa-nyang-eui-si-gan“) von Yoon Sung-Hyun

Viszerales Gewaltkino aus dem neuen Filmland No. 1, Südkorea, in dem Regisseur Yoon Sung-Hyun Elemente aus Action-, Suspense- und Heist-Kino zu einem bleischweren Genre-Amalgam verschmilzt, das den Zuschauer mit Nachdruck in die Sitzpolster drückt. Testosterongeschwängertes „Männerkino“, das sich Hollywood so heute nicht mehr zu machen getraut, und dessen furioses Shootout-Finale mehr als deutlich an Action-Virtuose Michael Mann erinnert. Den Namen des Regisseurs wird man sich merken müssen.

Zu sehen: am MI, 26.2. um 12:00 im Zoo Palast und am SO, 1.3. um 21:00 im Berlinale Palast

Bild (Titelbild): © Union Investment Partners, Littlebig Pictures, Sidus

#2: „First Cow“ von Kelly Reichardt

Ein sensibler, subtiler, zurückgenommener Anti-Western, nicht unähnlich P.T. Andersons „There will be blood“, wenngleich „kleiner“, der die Entstehung der US-Gesellschaft um 1900 rekonstruiert, aber vor Allem von Freundschaft erzählt. Unprätentiös und unamerikanisch beleuchtet die Regisseurin die Geburtsstunde des „American Dream“, der schon damals ein Heilsversprechen auf wackeligen Beinen war, alles getragen von herausragenden Schauspielerleistungen. Ein Film der leisen (Zwischen-)Töne, der nachwirkt, in seiner Machart herrlich altmodisch und anachronistisch.

zu sehen: Am DI 25.2. um 12:00 im Haus der Berliner Festspiele und um 18:15 im Friedrichstadt-Palast, am SO 1.3. um 10:00 im Haus der Berliner Festspiele

© Allyson Riggs/A24

#3: „Malmkrog“ von Cristi Puiu

Ein Mammutwerk, in einem Stück fast unwatchable, denn der einzige Inhalt sind 200 Minuten auf einer Vorlage von Wladimir Solowjow basierende hochphilosophische Diskussionen über Krieg und Frieden, Gut und Böse, Gott und Antichrist, Kultur und Europa und die Welt. Die Inszenierung ist überragend, das Szenenbild, das ein russisches Herrenhaus um 1900 rekonstruiert, exquisit, das Schauspiel penibel präzise. Ein Film von einem und für Gehirnakrobaten, der die Vorzüge und Überlegenheit kommunikativer Rationalität realer Diskurse gegenüber banalem Social Media-Dada-Schwachsinn schmerzlich bewusst macht, wenngleich das Weltbild hinter „Malmkrog“ ein zutiefst pessimistisches ist: „Malmkrog“, sagt Regisseur Puiu, „ist ein Syndrom.“ Die Krankheit, an der beinahe alle Bewohner des Herrenhauses leiden, ist eine Blindheit für die Weltläufte bei gleichzeitig bewundernswerter Klarheit des Geistes. Ein Symptom unserer Zeit.

zu sehen: am SA, 29.2. um 12:30 im CinemaxX

Malmkrog
(c) Mandragora

#4: „The Fountainhead“ von King Vidor

Politisches Lehrstück in Individualismus und Idealismus, basierend auf Ayn Rands literarischer Vorlage und Drehbuch: Architekt Howard Roark ist ein Mann stahlharter Prinzipien, Kompromisse bei seiner Arbeit sind ihm ein Graus, lieber arbeitet er am Bau, als ein Gebäude zu entwerfen, das nicht seinen Vorstellungen entspricht. Ein extremer Entwurf des „künstlerischen Genies“ und ein Plädoyer für künstlerische Freiheit gegen alle Widerstände, für visionäre und originäre Kunst als Fortschrittsmotor der Gesellschaft und gegen mittelmäßigen Kommerzialismus. Wenngleich von Rands radikal-liberaler Gesinnung geprägt, kann die Filmadaption für sich alleine stehen und nimmt eine universell gesellschafts- und machtkritische Position ein.

zu sehen: am DO, 27.2. um 17:00 im Zeughauskino

Quelle: Österreichisches Filmmuseum, Image courtesy of Park Circus/Warner Bros.

#5: „DAU. Natasha“ von Ilya Khrzhanovskiy

Das erste, filmische Ergebnis von Khrzhanovskiys megalomanischer wie exzentrischer Versuchsanordnung über Macht(missbrauch) in geschlossenen Systemen: Provokativ wie ambivalent, aber stets spannend. Ein Dokument eines anderen Lebens, das zugleich in der Gegenwart und in der Vergangenheit stattfindet, das zugleich fiktiv und real ist, und dessen größter Reiz das Geheimnis ist, das das ganze DAU-Projekt umweht. Kein Skandal, vielmehr ein Beispielt dafür, welche dramaturgischen Möglichkeiten sich dem Medium Film heute noch bieten, in Zeiten, wo man meint, alles schon gesehen zu haben.

ausführlicher Text: -> HIER

zu sehen: am SA, 29.2. um 18:30 im Friedrichstadt-Palast und am SO, 1.3. um 22:00 im International

© Phenomen Film

weitere Tipps:

„Bloody nose, empty pockets“: Ein höchst sympathischer filmischer Liebesbrief an die Halbwelt der Bars und Spelunken, an die männlichen und weiblichen Barflies, die in ihrer Kneipe des Vertrauens ein Zuhause und eine zweite Familie gefunden haben, in der die kleinen und großen Themen des Lebens gelebt und verhandelt werden. Nicht zuletzt ein Beispiel dafür, wie friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Bevölkerungsgruppen respektvoll und auf Augenhöhe geht.

„Siberia“: Nach „Tommaso“ der nächste untypische Film von Abel Ferrara, und jener Wettbewerbsbeitrag, der am meisten polarisierte: Die einen feierten ihn, die anderen verließen fluchtartig den Kinosaal. „Siberia“ ist eine, wie Ferrara selbst sagt, von Freud und Jung inspirierte Reise ins Unterbewusstsein (des Regisseurs?) mit einigen starken Szenen und durchaus erkenntnisreich.

„Ossessione“: Viscontis Erstling, einst von den italienischen Faschisten verboten und vernichtet und hier in restaurierter Fassung zu sehen, erzählt, visuell gewohnt überragend, eine Geschichte um Liebe, Hass und Täuschung mit getriebenen Hauptfiguren, die sich in Durchtriebenheit in nichts nachstehen. Ein Highlight des Films ist die anmutige Clara Calamai als Giovanna, beachtlich die differenzierte Moral, ein Kennzeichen von Viscontis Neorealismus.