Sonnenaufgang. Der Anbruch eines neuen Tages funktioniert in der Kunst oft als Sinnbild für einen Neuanfang. Wenn aber gleich in der ersten Einstellung eine feuerrote Sonne hinter einem Postkartenidyll der Budapester Innenstadt untergeht, wird deutlich, dass der erhoffte Lichtblick nur Illusion ist.
Budapest am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Irisz bewirbt sich um eine Anstellung in der renommierten Hutmanufaktur Leiter. Die junge Frau ist aber keine beliebige Interessentin, sondern die Tochter der Firmengründer, die etliche Jahre zuvor bei einem Unglück ums Leben kamen. Mittlerweile erinnert nur mehr der Name an das einstige Familienunternehmen und die neue Leitung ist alles andere als glücklich über den Neuzugang. Doch Irisz lässt sich nicht beirren und tritt die Stelle an, ohne eine Sonderbehandlung zu erwarten. Nunmehr erfährt sie nicht nur die raue Lebensrealität der Arbeiterklasse, sondern auch von dunklen Kapiteln ihrer Familiengeschichte.

Das Filmland Ungarn ist nicht unbedingt der erste Name der fällt, wenn es ums europäische Kino geht, ist aber konstant von hoher Produktivität gezeichnet und bringt in unregelmäßigen Abständen sowohl international beachtete Erfolge, als auch auch geschätzte Geheimtipps hervor. Zweimal konnten ungarische (Co-)Produktionen auch schon den begehrten Auslandsoscar einheimsen, zuletzt 2015 für das erschütternde Holocaust-Drama „Son of Saul“, dessen Regisseur Lászlo Nemes mit „Sunset“ nun ein weiteres brisantes Kapitel der europäischen Geschichte in Angriff nimmt.
Der Glanz der abklingenden Donaumonarchie erstrahlt dabei als trügerisches Blendwerk, dessen schöner Schein die dunklen Flecken unter der Oberfläche übertünchen will. Doch wo Licht ist, fallen Schatten und ebendieser Umstand wird von Nemes überaus anschaulich in Szene gesetzt. Mittels konzentriertem Einsatz natürlicher Lichtquellen erscheint „Die größte Konkurrentin Wiens“, wie die ungarische Hauptstadt im Prolog betitelt wird, mal im weichzeichnenden Schimmer hochsommerlichen Sonnenlichts, mal nur von Fackeln erhellt, die die Nachtseiten der Kronlandgesellschaft beleuchten.

Die Charakterzeichnung im Personenstab bewegt sich aber jenseits der Kontraste einer Schwarz-Weiß-Malerei in erklärten Grauzonen. Ihre Platzierung auf den Stufen der hierarchischen Leiter malt ein bemerkenswert trostloses Sittenbild, in dem alle gezeigten zwischenmenschlichen Beziehungen auf einem weitverzweigten Netz wechselseitiger Abhängigkeiten basieren. Auf allen Ebenen stehen sich hörige Parteien, gegenüber: Österreich-Ungarn, Adel-Bürger, Bourgeoisie-Proletariat, Mann-Frau, Altgediente-Neuankömmlinge. Mitten in dieses soziale Minenfeld wird die Protagonistin hineingestoßen, die durch ihren Hintergrund zwischen den Fronten steht und nirgends zugehörig scheint. Dementsprechend unterkühlt fallen die Interaktionen mit dieser Umwelt aus und menschliche Zuneigung tritt höchstens über protokollarische Ehrenbezeugungen zu Tage. Folglich fällt es denkbar schwer mit den Akteuren zu sympathisieren, denn obwohl die Leidtragenden klar markiert werden, sind die Grenzen zwischen Opfer und Täter weniger klar abgesteckt und die Methoden zum Durchbrechen des Systems sind ebenso radikal wie die zu dessen Erhaltung.
Irisz ist zwar in einem neutralen Zwischenraum verortet, doch auch mit ihr kann sich das Publikum schwer identifizieren; lethargisch wird sie wie ein Blatt im Wind hin- und her gepeitscht und bleibt dabei stets unnahbar, ja undurchsichtig. Vielmehr fungieren die Figur und ihre Erfahrungswerte als Medium für eine ungeschönte Gesellschaftsstudie, deren Sprache sich einer durchaus eigenwilligen Syntax bedient. Beinahe jede Szene, die von der Protagonistin betreten wird, öffnet mit einem ihr folgenden Tracking-Shot entgegen einem unscharfen Hintergrund. Der mangelnde Fokus bildet sich aber nicht nur in der visuellen Umsetzung ab, sondern manifestiert sich auch im Fehlen konkreter narrativer Zielpunkte. Gezeigt wird keine abgeschlossene Geschichte, sondern die Momentaufnahme eines leise brodelnden Hexenkessels, der kurz vor dem Überlaufen steht. Als Methode wählt Nemes einen überhöhten Realismus mit langen Einstellungen und reduzierten Performances. Kamera wie Buch offenbaren stets nur Teilstücke des Gesamtbildes von einem Lebensraum, der im uns bekannten Fortlauf der Geschichte von einer absoluten Herrschaft in die nächste fällt.

Fazit:
Nemes’ Abriss von klassen- und geschlechterkämpferischen Ambitionen ist kein konventionelles Historiendrama und trägt die klare Handschrift des Regisseurs. Nichtsdestotrotz glänzt das Werk auch mit einer opulenten Ausstattung, die die Epoche wiederauferstehen lässt. Doch der Fäulnisgeruch hinter der Dekadenz durchdringt den blendenden Schleier und macht sich in allen Schichten breit. „Sunset“ bezieht keine klare Stellung, sondern bildet vielmehr moralische Grenzgänge im Zeichen einer Ideologie ab, drängt aber gleichzeitig die leise Frage auf, wie viel des besagten Zeitgeistes gegenwärtig noch diesen Kulturraum bestimmt. Ab 14.6. im Kino!
Bewertung:
7 von 10 Punkten
Bilder: Laokoon Filmgroup – Playtime Production