„Argento, Bava, Fulci uvm.“ – Unter diese Schlagzeile haben wir unsere letzte Wortmeldung zur Giallo Retrospektive im österreichischen Filmmuseum gestellt und damit die zwei zelebrierten Großmeister, sowie das Enfant terrible des Genres benannt.

Hinter dem dubiosen „uvm.“ verbergen sich noch einige erwähnenswerte Namen, unter ihnen Sergio Martino, Bruder eines einflussreichen Filmproduzenten, der in seiner langen Regiekarriere sechs durchwegs essentielle Beiträge zur Strömung inszenierte, von denen zwei den Einzug in den Kanon der aktuellen Schau fanden.

von Daniel Krunz

„Der Killer von Wien“ („Lo strano vizio della signora Wardh“) Sergio Martino, 1971

Ziemlich genau vor 49 Jahren, namentlich im September 1970, setzte der Giallo der Stadt ein Denkmal, die heute dem Giallo ein Denkmal setzt. Eine junges Team um Sergio Martino nutzte das geschichtsträchtige Wien als Kulisse für einen Film im Stil des gerade hochmodernen Thriller-Trends. Mit von der Partie: Martinos 22-jährige Schwägerin Edwige Fenech, die mit der Hauptrolle in dieser Produktion ihre ikonischste Schauspielarbeit leistet und dank diesem und einer handvoll ähnlicher Auftritte retrospektiv zur „Queen of Giallo“ erklärt wird.

In Wien treibt ein irrer Frauenmörder sein Unwesen. Schlechtes Timing für die Diplomatengattin Julie Wardh, die kurz nach der dritten Bluttat mit ihrem Mann in der Donaumetropole landet. Die junge Frau verbindet eine dunkle Vergangenheit mit der Stadt und einem finsteren Mann, die sie hier beide einholen. Als obendrein ein hofierender Millionenerbe in ihr Leben tritt, gerät Julie in einen emotionalen Strudel und auch in das Visier des Killers.

Martino öffnet seine Erzählung um „Das merkwürdige Laster der Frau Wardh“, so die wörtliche Übersetzung des Originaltitels, mit einem  Freud-Zitat und fundiert mit der Person zwei tragenden Säulen dieses Genreklassikers: Seelische Abgründe als Grundlage, und die Stadt Wien als Schauplatz eines stylischen Psychothrillers.

Das zitierte Laster beschreibt eine sadomasochistische Beziehung  aus der Vergangenheit der Protagonistin, aus der sie sich auch nach ihrem Rückzug ins Eheleben nicht befreien kann. Der Zwiespalt ist gleichsam ein Problemaufriss des Verhältnisses von Liebe und Sexualität in der Aufbruchsstimmung um das Jahr 1970. Biedere Bourgeoisie trifft hedonistische Boheme und der Konflikt wird buchstäblich plakativ thematisiert, wenn auf einem Poster im Badezimmer von Julies enthemmter Freundin Carol der Slogan „Sex without Love“ prangt. Die Titelheldin ist zwischen den Extremen des Zeitwandels hin- und hergerissen und mal zur braven Ehefrau, mal zum verfügbaren Lustobjekt verdammt. Der bodenständige Ehegatte verspricht Geborgenheit, der gefährliche Ex entfesselte Leidenschaft und der kürzlich verstorbene George Hilton verkörpert eine mögliche Verbindung der zwei Welten in einem spitzbübischen, aber hintergründigen jugendlichen Leibhaber, zu dem sich Julie emotional wie auch körperlich hingezogen fühlt.

Letztere zwei Beziehungen erhalten von Italiens erster Filmkomponistin Nora Orlandi eigene musikalische Themen; eine verträumte Bossa-Nova Variation für das neue Abenteuer, sowie ein von Kirchenorgeln und sakralem Gesang inspiriertes Leitmotiv für die doppeldeutige Passion der jungen Frau. Das theatralische Potential der zeitlosen, und auch stimmungsmäßig ambivalenten Komposition schöpft später nicht nur Quentin Tarantino in „Kill Bill: Vol. 2“ aus, sondern findet zuletzt auch im erotischen Arthouse-Fiebertraum „The Wild Boys“ Anwendung.

Auch abseits der hörbaren Anklänge geizt der Film nicht mit religiösen Motiven, wenn Martino seine Hauptdarstellerin in einen technisch generierten Heiligenschein bettet und zum sündhaften Unschuldsengel stilisiert. Die rehäugige Fenech spielt dabei mit ganzem Körpereinsatz das vollste Potential ihrer erotischen Ambivalenz aus und navigiert widerspruchslos zwischen verschüchtertem Opferlamm und Wölfin im Schafspelz. Bedauernswerterweise wird die charismatische Mimin später auf einen eindeutigen Rollentypus festgeschrieben und agiert im Laufe ihrer weiteren Schauspielkarriere vornehmlich in Sexklamauks als Lustobjekt einer tölpelhaften Männerschar, macht sich aber gleichzeitig einen Namen als erfolgreiche Filmproduzentin. Doch bereits 1971 dreht sich alles um die Ausnahmedarstellerin, so auch die Kamera, die die Protagonistin, zusammen mit den Männern in ihrem Leben, soghaft umkreist und ihre psychische Abwärtsspirale nachzeichnet. Hierbei entstehen die mitunter memorabelsten Bilder der Giallo-Geschichte, ebenjene schleierhaften Visionen, deren experimentelle Abstraktheit die heutige Auffassung des Genres ganz wesentlich mitformt.

Im allegorischen Bildzyklus durchläuft Mrs. Wardh Martyrium, Opferung und Auferstehung, samt rituellem Blutvergießen und Stigmata-Metaphern. Es ist ein körperlicher, wie auch seelischer Prozess, der schließlich eine klare Emanzipationsgeschichte zum Produkt hat. Die in den Wahnsinn getriebene Frau, die sich letztlich kühl triumphierend über die intrigante Männerwelt erhebt, stellt eine Umkehr stereotyper Geschlechterzuschreibungen und ein wiederkehrendes Motiv in Martinos Arbeiten dar. Gerne wird „Der Killer von Wien“ als Bilderbuchbeispiel für die klischeehafte Oberflächlichkeit und sinnbefreite Unterhaltung, mit der das Genre immer wieder attribuiert wird, herangezogen. Ohne Frage kann und darf Martinos Giallo-Erstling als massenorientiertes Hochglanzprodukt gesehen werden, wer aber die feinen Untertöne überhört, verschließt sich vor dem sozial aussagekräftigen Subtext, die Drehbuchautor Ernesto Gastaldi der filmischen Fabel einschreibt.

Edwige Fenech in „Der Killer von Wien“

„Der Schwanz des Skorpions“ („La coda dello scorpione“) Sergio Martino, 1971

Gastaldi zeichnet auch für das Buch zu Martinos zweitem Giallo verantwortlich, der nur wenige Monate nach „Der Killer von Wien“ in die Kinos kam. Der Regisseur versammelt mit George Hilton und Alberto de Mendoza auch einen Teil des Casts seines letzten Filmes; Edwige Fenech, die ihm gerade einen Neffen geschenkt hat, befindet sich aber in Babypause. Die weibliche Hauptrolle übernimmt daher Anita Strindberg, die auch ihre ganz eigene Chemie mit Bildschirmpartner Hilton entwickelt.

Ein schwerreicher Geschäftsmann kommt bei der Explosion eines Passagierflugzeugs ums Leben. Seine frischgebackene Witwe soll in Athen die Versicherungssumme von einer Million Dollar kassieren, schlittert dort aber in einen Abgrund von Erpressung und Mord, stets gefolgt von einem charmanten Versicherungsdetektiv, der auf den Fall angesetzt ist.

Gastaldo, der ursprünglich dem literarischen Fach der Belletristik entstammt und auch einige Kriminalromane verfasste, orientiert sich nun stärker am klassischen Krimi-Fundament der Story und spart sich die Tauchgänge in die menschliche Seele, die der als Psychothriller gelagerte Giallo-Erstling Martinos kurz zuvor noch wagt. Der Film ist dabei einer der ersten, die Dario Argentos Betitelungskonvention mittels Tiernamen adaptiert, geht aber inhaltlich eine ganz eigene, selbstinspirierte Richtung. Quasi als Antithese zur geheimnisvollen Großstadt wählt „Der Schwanz des Skorpions“ ein mediterranes, zuweilen maritimes Setting und tauscht Häuser- gegen Felsenschluchten in weichwaschendem Sonnenlicht. In der Bebilderung markiert Martino somit einen Hotspot der Jetset-Gesellschaft, dementsprechend rekrutiert sich der Personenstab aus einer paneuropäischen Schickimicki-Szene, die vom Gestank des schnöden Mammons durchzogen ist. Frei nach Agatha Christie und „Das Böse unter der Sonne“ beherbergt die helle Kulisse dunkle Abgründe, die aus urmenschlichen Trieben erwachsen.

Trotz der gemeinsamen Basis entstehen somit zwei durchaus unterschiedliche Filme, die von ihrer internen Motivlage zusammengehalten werden. Wie auch Filmkritiker und Essayist Roberto Curti in seiner Einführung zu „Der Schwanz des Skorpions“ festhält, stellt dies einen markanten Unterschied zu den Arbeiten Argentos dar, in denen der Mordakt in der Regel eine aus Wahnsinn resultierende Grenzüberschreitung darstellt. Martino wiederum erklärt die Motivation zu Morden ebenso aus einer irrational übersteigerten Weltsicht heraus, stellt sie jedoch genauso oft in den Dienst eines pragmatischen Nutzens und ist somit, zumindest in diesen zwei Werken, mehr an der Hässlichkeit eines gesunden, als an der Ästhetik eines kranken Geistes interessiert.

Dies geschieht über einen zugleich bildhaften und bildlichen Erzählstil, der das Publikum in locker fließender Vorwärtsbewegung durch die schillernde Imitation der Wirklichkeit führt. Noch ein Kontrast zu Argentos minutiöser Formelhaftigkeit, doch als Resultat schaffen beide Filmemacher hochstilisierte, betörende Bildwelten und betreiben Visual Storytelling auf hohem Niveau. „Der Killer von Wien“ ist am 21.10. um 21:00 Uhr noch einmal im österreichischen Filmmuseum zu sehen und sei hiermit nicht nur LiebhaberInnen der Stadt ans Herz gelegt. Das weitere Programm der Giallo-Schau gibt es HIER.