von Cliff Brockerhoff

Regisseure gibt es, ebenso wie Filme, wie Sand am Meer. Viele von ihnen kommen niemals über den Status des Hobbyfilmers hinaus, und ihre ersten Spuren werden von der Flut an Neuerscheinungen mitgerissen. Gerade in den letzen Jahren schafften es jedoch gerade jüngere Filmemacher sich in die illustre Riege der großen Namen einzureihen. Trey Edward Shults steht mit seinen 31 vollendeten Lebensjahren noch am Anfang seiner Karriere, hat zuletzt aber schon mit „It comes at night“ oder vor allem „Krisha“ aufhorchen lassen und vorsichtig den Fuß ins Wasser gehalten. Der ganz große Sprung blieb ihm bis dato verwehrt – das könnte sich nun ändern.

Nach seinem Ausflug in psychologisch angehauchte Horrorgefilde kehrt der Texaner zurück ins Dramagenre, dorthin wo er 2015 einen eigens erlebten Zwischenfall in seiner Familie filmisch verarbeitete und bereits bewiesen hat, dass er eine ganz eigene Herangehensweise pflegt, die sich insbesondere durch eine kreative Erzählweise auszeichnet. Nun, knapp fünf Jahre später verlässt Shults das persönliche Sujet und kehrt mit „Waves“ auf die große Leinwand zurück – und wie. Bereits die ersten Minuten zeigen wohin die Reise gehen wird und konfrontieren den Betrachter mit wilden 360-Grad-Kamerafahrten, lauten Beats und knalligen Farben. Dass die kommenden 135 Minuten die gesamte Palette an Gefühlen offerieren werden, ist zu diesem Zeitpunkt allerdings noch eine leise schwelende Hoffnung.

Und doch; je länger der Film andauert, umso mehr nimmt die emotionale Fahrt Gestalt an. Die Strömung geleitet den interessierten Beobachter durch den Alltag einer afroamerikanischen Familie. Zentraler Charakter ist dabei der junge Tyler, ein aufstrebender Teenager, der sowohl erste Erfolge beim Ringen, als auch in der Liebe verzeichnen kann. Gepusht von seinem engagierten Vater versucht Tyler den Erwartungen gerecht zu werden, erleidet jedoch eine schlimme Verletzung, die seinem sportlichen Höhenflug ein jähes Ende bereitet. Und als sei das nicht genug, muss sich auch seine Beziehung einer wahren Zerreißprobe erwehren. „Waves“ erreicht dabei, untermalt von abwechslungsreichen Klängen zwischen R’n’B und Techno, ungeahnte Rasanz, nimmt auf dem Gipfel einen tiefen Atemzug und stürzt dann ungebremst in die Flut. Eine Flut, die alles und jeden mitreißt, denn die sich offenbarenden Abgründe verschlingen all jene, die sich dem emotionalen Zugang nicht verschließen.

Die sich erstreckende Geschichte erzählt von Wut, Schmerz und Trauer – ebenso aber auch von Familie, Liebe und Vergebung und wechselt immer wieder die Perspektive. Shults vermengt gekonnt die Stimmungen miteinander und verlässt für seine Vision auch gerne den konventionellen Weg. Er spielt mit Farben, Formaten, Klängen und Strukturen, schindet die Seele des Publikums in der ersten Hälfte, nur um sie im zweiten, völlig anders akzentuierten Teil mit Balsam zu versehen. Das Besondere dabei ist, dass nichts davon ansatzweise affektiert wirkt. Jede Person handelt, im Rahmen seiner vorgestellten Charakterisierung, nachvollziehbar und entzieht sich nicht gänzlich der Sympathie. „Waves“ meidet zudem die Eingrenzung der moralischen Komponente indem er den zuletzt häufig aufgegriffenen Faktor der Kultur außen vor lässt und den Finger, trotz farbigem Hauptcast und aufbrandender Relevanz, nur ganz dezent gen Rassismus-Debatte erhebt. Das Werk erzählt eine universell, für alle Menschen gewichtige Geschichte und hält uns schmerzhaft die Vergänglichkeit vor Augen. Carpe Diem – lebe den Tag. Denn jeder Tag könnte der Letzte sein, jeder Moment könnte unser Leben für immer unwiderruflich verändern. Keine neue oder gar innovative Erkenntnis, aber die Art und Weise wie das Werk diesen Kanon intoniert, geht ohne Umschweife unter die Haut.

Fazit

Wild, aufwühlend, variabel, elektrisierend, schillernd. „Waves“ lässt sich nicht in ein Korsett zwängen, sprengt Genregrenzen und infiziert unumwunden die Sinne seiner Betrachter. Mal wunderschön wogend, dann wieder schmerzvoll stürmend versprüht das Drama ungefilterte Kinomagie, die mit voller Wucht die Herzen und Augen flutet. Mit einem groß aufspielenden Ensemble, seiner erfrischenden Unberechenbarkeit und einer modernen Handschrift gesegnet, ist Shults‘ dritter Spielfilm der unbestrittene Höhepunkt seiner Karriere und schon jetzt eines der großen Highlights des Jahres. Sensationell!

Bewertung

9 von 10 Punkten

Bewertung: 9 von 10.

Bilder: ©Universal Pictures