Die wilden Siebziger, ein Jahrzehnt voller ikonischer Filme, der Gründung wegweisender Unternehmen und verhängnisvoller politischer Affären. In der Erinnerung verweilt die Dekade bei den meisten aber wahrscheinlich als die Zeit der freien Liebe, Hippies und treibenden Discomusik. Regisseur Ti West greift in „X“ vieles davon auf, die Musik versprüht aber eher wenig Frohsinn – und generell beschleicht einen schnell das Gefühl, dass die Stimmung jederzeit umschlagen könnte.

von Cliff Brockerhoff

Erzählt wird dabei die Geschichte rund um ein Amateur-Filmteam, das sich als Kulisse für seinen nächsten „Schmuddelfilm“ eine alte Farm ausgesucht hat und zwischen Kühen, Strohballen und morschen Holzbalken das Bett wackeln lässt. Die eigentlichen Bewohner, ein älteres und nicht minder verschrobenes Ehepaar, begrüßt den Produzenten freundlich mit der Schrotflinte und beäugt das Sextett fortan stets kritisch aus der Ferne. Als sich die unheimlichen Begegnungen häufen muss die Crew erkennen, dass das explosive Gemisch aus Liebe, Sex und Pornographie eine besondere Wirkung auf das Paar ausstrahlt und das Distanzgefühl nachhaltig beeinträchtigt.

Angekündigt wurde der Film dabei anderenorts reißerisch als „Porn-Slasher“, ganz so drastisch schlägt es aber weder in die eine noch in die andere Richtung aus. Nacktheit und Brutalität sind natürliche Komponenten der Handlung, doch die Zwischentöne sind durchaus deutlich seriöser. So setzt sich das Drehbuch auch immer wieder mit beinahe psychologischen Themen auseinander, umspielt das weibliche Körpergefühl während des Alterungsprozesses mit psychedelischer Klangkulisse und porträtiert die sinnliche Lust nicht nur als spaßige Interaktion, sondern mit zwischenmenschlicher Wärme und Wertschätzung. So schafft es „X“ die Atmosphäre ohne Vorwarnung komplett umschlagen zu lassen wenn man am wenigsten damit rechnet und unterfüttert seine ansonsten simple Geschichte mit einer Unnahbarkeit, gespickt mit Gewaltspitzen und großartig eingefangener Szenerie. Anfangs wirkt der Schauplatz mitsamt Farm und See noch wie eine schamlos kopierte Melange aus „Blutgericht in Texas“ und „Freitag der 13“., doch bis auf überdeutliche Referenzen steht „X“ auf eigenen Füßen und schwingt sich vor allem in der zweiten Hälfte zu einer spannenden tour de force auf.

Geduld sollte man aber zur Sichtung mitbringen, da sich insbesondere der erste Akt größtenteils auf entschleunigte Exposition und dezente Erotik versteift, die typischerweise auch nicht davor zurückschreckt schlüpfrige Wortspiele einzubauen, die zum Schmunzeln einladen und mit der Stimmung brechen. Die Genremischung findet immer wieder interessante Zwischenräume innerhalb seiner Ausprägungen, reiht Humor an Hackebeil und bewahrt sich, bei all der expliziten Gewaltdarstellung, ein Mindestmaß an Leichtfüßigkeit, mit der die Akteure durch das Bild tanzen. Als emotionale Fixpunkte taugen die Charaktere somit nur selten, dafür ist alles zu bewusst schematisch ausgearbeitet. Sämtliche Figuren der Filmcrew sind lediglich Schablonen bereits zigfach aufgeführter Gestalten, konträr dazu kann der weibliche Part des älteren Ehepaars eine skurrile Sympathie für sich verbuchen. Ihre Motive und Sehnsüchte lassen sich am ehesten nachfühlen, und wenn sie im Mittelteil zu „Don’t fear the reaper“ das Bild enthemmt in Blut tränkt, verursacht das ein ganz bizarres Gefühl von Wohlsein. Technisch arbeitet sich der Film nicht an Standards ab, sondern überrascht häufig mit kreativen Kompositionen, untypischen Schnitten und Parallelmontagen. Je länger man als das auf sich wirken lässt, umso mehr verankern sich die positiven Aspekte in der Erinnerung. Passend zu den 70s.

Fazit

Es dauert tatsächlich eine gewisse Zeit bis “X” sich vollständig und ungeniert für die Zuschauerschaft entkleidet, dafür entschädigt das Werk in der zweiten Hälfte mit schwungvollen Stellungs- und vor allem Stimmungswechseln. Mal von bitterbösem Humor beseelt, dann blutrot eingefärbt gewinnt Ti Wests’ neuer Film immer weiter an Intensität und gipfelt bei sphärischen Klängen in seinem saftigen Finale voller handgemachter Effekte. Ein sexy Retro-Slasher der Spaß macht. Ab dem 19. Mai im Kino!

Bewertung

Bewertung: 7 von 10.

(73/100)

Bilder: ©A24 / Capelight Pictures

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