Die beliebte Animationsserie „Rick and Morty“ basiert auf ihr, filmische Perlen wie der Sci-Fi-Thriller „Coherence“ haben sie aufgegriffen und das Marvel Cinematic Universe hat sie zuletzt im großen Stil salonfähig gemacht: die Annahme sogenannter Parallelwelten, besser bekannt als die Multiversums-Theorie. Ein philosophisches und physikalischen Gedankenkonstrukt, welches zeitlich gar bis in die Antike zurückreicht und gerade für eine cineastische Erzählung grenzenlose Möglichkeiten bietet. Diese akkurat auszuschöpfen ist aber gar nicht so leicht.

von Cliff Brockerhoff

Mit welch einer Kreativität dies möglich ist, beweist uns nun „Everything everywhere all at once“, der sich zentral um die Beziehung von Evelyn und ihrer Tochter Joy dreht. Dass die Mutter dabei am liebsten in ein anderes Universum reisen möchte, überrascht nicht. The amercian dream gone wrong, denn die Leiterin eines Waschsalons hadert mit sich und den Tücken des Alltags, die Beziehung zu ihrer Tochter ist gelinde gesagt angespannt und die elterliche Loslösung im jungen Erwachsenenalter hat sie bis heute nicht komplett verarbeitet. Was wäre nur gewesen, wenn sie sich anders entschieden hätte? Wäre ihr Leben dann erfüllter? Wäre sie glücklicher? Und was ist überhaupt „glücklich sein“?

An einer Antwort auf diese und weitere Fragen versucht sich der Film in Folge, denn Ehemann Waymond berichtet seiner Frau eines Tages von der Möglichkeit zwischen verschiedenen Universen zu „jumpen“ und einen Zeitstrang zu begutachten, der sich parallel abzeichnet, jedoch auf anderen Abzweigungen im Leben basiert. Ein zutiefst menschlicher Ansatz, dem der Film nachgeht und damit einen Gedankengang bespielt, den jeder von uns schon einmal hatte. Geprägt von Zweifeln, Träumen und einer schwelenden Unzufriedenheit ertappt man nicht nur Evelyn, sondern vor allem sich selbst dabei eben jene Theorie zu verfolgen – immer in dem Wissen, dass wir uns einst aus Gründen anders entschieden haben und die Zeit nun mal unnachgiebig vorwärts läuft. Die Protagonistin des Werkes ist aber immerhin in der Lage die Theorie mit Bildern zu füllen, die wir als Zuschauer miterleben, ummantelt von einer eher typischen Geschichte um eine große Bedrohung, die die Welt ins Chaos zu stürzen droht.

Die anfänglich äußerst ausladende Exposition mündet nach etwa einer halben Stunde in den ersten, durchaus humorvoll gestalteten Situationen, die durch den unbegrenzten Handlungsspielraum so erfrischend unvorhersehbar sind, dass es Freude bereitet die irren Wendungen mitzuerleben. Technisch präsentiert sich „Everything everywhere all at once“ abwechslungs- und ideenreich. Virtuose Schnitte reihen sich an Martial-Arts-Zeitlupen-Choreographien, Zeit zum Verschnaufen gibt es in dem Potpourri aus Szenenwechseln und Dialogfetzen nur selten. Der Unterhaltungswert ist dementsprechend hoch, die intendierte Emotionalität bleibt aber insbesondere im Mittelteil in einer der zahlreichen Parallelwelten stecken und findet erst gegen Ende den Weg zurück. Wenn der Film seine Grundidee erst einmal offengelegt und man sich als Zuschauer eingefunden hat, lässt die anfängliche Begeisterung langsam nach und leidet letztlich auch darunter, dass der Großteil der Handlung plötzlich nur noch in einem Gebäude platziert wird, in das der Film seine so lebendige Geschichte pfercht. Ein schwer nachzuvollziehender Schritt, der im krassen Kontrast zum eigentlichen Potenzial steht. Denn der Film beugt sich von Anfang an keiner physikalischen oder erzählerischen Gesetzmäßigkeit, definiert ganz eigene Regeln, zwängt sich dann aber unnötigerweise in ein Korsett, durch das er sich selbst limitiert.

Zum Glück biegt das Drehbuch dann aber irgendwann auch wieder an der richtigen Kreuzung ab und lässt sich selbst von der Leine. Wenn sich die großartige Michelle Yeoh und Altmeisterin Jamie Lee Curtis in einer Welt, in der ein jeder Würstchen statt Finger besitzt, liebevoll mit den Füßen durch das Gesicht streicheln, weiß man wieder, warum der Film einen derartigen Hype durchlebt. Szenen, die es so noch nie zu sehen gab, begünstigt durch Konstellationen, die man erstmal gedanklich spinnen muss, getragen von Akteuren, die die absurdesten Situationen mit vollkommener Überzeugung auf die Leinwand bringen. Ohne diese ließe sich das ein oder andere Kopfschütteln anstelle eines leisen Schmunzeln nicht unterbinden, spätestens beim arg kitschigen Finale des Werkes mit seinen übertriebenen Haken – doch hat man die Lawine aus Ideen und die visuelle Kurzlebigkeit erst einmal kognitiv verarbeitet, erzählt einem der Film eine im Kern äußerst melancholische und doch lebenbejahende Familiengeschichte. Diese fügt sich nicht immer nahtlos in die überbordende Inszenierung ein und kann der Filmhistorie inhaltlich nichts Neues hinzufügen, der Mut und der jederzeit spürbare Spaß aller Beteiligten täuschen jedoch über den Großteil der Makel und die unausgegorene Balance hinweg. Eine Empfehlung für aufgeschlossenes Publikum, das angeblich schon alles gesehen hat.

Fazit

Selten war ein Titel passender: „Everything everywhere all at once“ ergründet die schmerzhafte Sinnsuche mit solch grenzensprengender Kreativität und bewahrt sich gleichzeitig bei allem Humor eine wundervolle Herzlichkeit. Ein Werk, das uns an die Wertschätzung des eigenen Daseins erinnert und damit eine Botschaft übermittelt, die man sich in Zeiten einer vom Leistungsdruck geprägten und in sich gespaltenen, emotional abgestumpften Gesellschaft am besten everytime vor Augen halten sollte. Ein großer Film, nach dessen Sichtung man sich ganz klein fühlt.

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

(82/100)

Bilder: ©LEONINE / A24