Als man Schauspielerin Mia Goth während der „Infinity Pool“ Premiere in Berlin nach ihrer ungewöhnlichen und kürzlich sehr ähnlichen Rollenauswahl befragt, schließlich spiele sie in Ti West’s Überraschungshit „X“ (gleich zwei) und in Brandon Cronenbergs Mysteryhorror Charaktere der Extreme, lautet die Antwort schlicht: Sie liebe Geschichten, die das Publikum spalten, die provozieren und Rollen, die herausfordern.

von Madeleine Eger

Pearl, so die gleichzeitig titelgebende Figur des neuen Ti West Films, der die Vorgeschichte zu dem an die 70er-Jahre angelehnten Softporn-Slasher „X“ erzählt, bildet da ebenso keine Ausnahme. Eine junge Frau, die die „Realität nicht mag“ und die vom Leben verängstigt ist, durchläuft in einer nahezu surreal märchenhaften Inszenierung im alten Technicolorlook der 50er-Jahre-Melodramen eine für sie traumatische Entwicklung, die am Ende nicht nur etwas für Horrorfans, sondern auch für eingefleischte Filmenthusiasten ist. „Pearl“ wartet nämlich zum einen wie sein Vorgänger „X“ mit Gewalteskapaden auf, wird jedoch im Ganzen zu einer eindrücklichen Charakterstudie einer Psychopathin. Gebrochen von Neid und unerfülltem Begehren läuft Mia Goth in ihrer Rolle als „Pearl“ erneut zu Höchstformen auf und wird einem in den letzten Minuten mit einem starken Monolog regelrecht den Boden unter den Füßen wegreißen.

1918, gut 60 Jahre vor den Ereignissen in „X“, lebt Pearl (Mia Goth) mit ihren Eltern auf einer abgelegenen Farm. Während der letzten Tage der spanischen Grippe, von der ihr Vater (Matthew Sunderland) zum Pflegefall wurde, kämpft ihr Ehemann Howard (Alistair Sewell) in Europa im Ersten Weltkrieg. Mit quälender Strenge drängt ihre Mutter (Tandi Wright) sie in Verpflichtungen, die Pearls Träume zu ersticken drohen. Die will nämlich unbedingt weg von zu Hause. Will berühmt und erfolgreich werden. Wie die tanzenden Mädchen in den Filmen, die sie sich heimlich im Kino ansieht, wenn sie mal wieder in der Stadt die Medikamente für ihren Vater holen muss. Dort lernt sie den Filmvorführer kennen, dem sie verfällt, weil er der Einzige ist, der ihre Träume scheinbar unterstützt. Alsbald muss Pearl jedoch erkennen, dass sie die Fesseln der Provinz nicht abstreifen kann und ihre brodelnde Frustration entlädt sich mit tödlicher Grausamkeit.

Während sich „X“ ganz klar an Filmen wie „Texas Chainsaw Massacre“ orientierte und den Grindhouse der 70er wieder aufleben ließ, öffnen sich in „Pearl“ die Pforten zu den Filmen des Golden Age aus Hollywood. Wenn die junge Frau mal wieder den Tieren in der großen Scheune ihr Gesangs- und Tanztalent beweist, fühlt man sich sofort zurückversetzt in die 50er Jahre, in denen etliche Werke desselben Looks mit Musicalnummern die Sehnsucht nach Erfolg besangen. Gleichzeitig erinnert die Szenerie, in der der Himmel in strahlenden Pastellfarben getaucht ist, schon nahezu an frühere Disneymärchen. Und spätestens als Pearl dann auf dem Heimweg eine Vogelscheuche in einem der Felder entdeckt und diese von ihrer Halterung befreit, sind die „Zauberer von Oz“ Referenzen eindeutig zu erkennen. Allerdings muss die Vogelscheuche hier lediglich als passiver Ehemannersatz für Pearls Lust herhalten und wird kein langer Wegbegleiter werden.

Aber nicht nur mit Bildern weiß Regisseur Ti West umzugehen. Gemeinsam mit den Komponisten Tyler Bates und Timothy Williams unterlegt er die Geschichte mit Orchestermusik, die als prägnanter Stimmungsträger fungiert. Mal subtil, romantisch und melancholisch, mal drohend anschwellend. Mia Goths ohnehin schon großartiges Schauspiel wird zusammen mit dem Score eine detailreiche und intensive Geschichte rund um einen instabilen, innerlich verrottenden Charakter.

Und obwohl es sich bei Pearl um eine angehende Serienmörderin handelt, inszenieren Ti West und Mia Goth, die gemeinsam das Drehbuch schrieben, ihre Hauptfigur so, dass ihre emotionalen Motive durchweg nachvollziehbar werden. Familienkonflikte werden genauso behandelt wie das schlummernde Grundbedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bedeutung sowie deren tief einschneidende Enttäuschungen. Die etwas andere Geschichte eines zerplatzten amerikanischen Traums. Selbst die Isolation, die Einsamkeit sowie die Sehnsucht nach Intimität, der sich Pearl ausgesetzt sieht, lässt sich gut nachempfinden.

Mit „Pearl“ erzählt Ti West hier nicht nur eine überraschend melodramatische Originstory einer Killerin, sondern erweitert „X“ gleichzeitig um eine Ebene und verleiht den Geschehnissen eine noch tiefere Bedeutung. Freuen darf man sich somit schon mal auf das kommende, in den 80er Jahren angesiedelten Sequel „MaXXXine“, in dem alle gesponnen Fäden rund um Mia Goths Figuren ihren Abschluss finden werden.

Fazit

Ti West überrascht nach dem Erfolg von „X“ mit einem Horrorfilm, der zum detailreichen wie melodramatischen Psychogramm einer Mörderin wird und gleichzeitig die Liebe zum Golden Age Hollywood der 50er Jahre bebildert. Gepaart mit der herausragenden Leistung von Mia Goth ist „Pearl“ eines der interessantesten Prequels im Horrorgenre. Seit 23.6. im Kino (Ö).

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

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Bild: (c) Christopher Moss / Polyfilm