Der bislang nur durch seine Kurzfilme bekannte österreichische Regisseur Gregor Schmidinger schafft mit seinem Langfilmdebüt „Nevrland“ eine äußerst atmosphärische Darstellung der Selbstfindung und der Erforschung der Körperlichkeit. Der 17-jährige Protagonist begibt sich auf einen surreal erscheinenden Trip, bei dem er unentwegt Schwellenzustände durchlebt, sodass man nie genau weiß, wo die Realität aufhört und die Imagination beginnt. „Nevrland“ wurde bereits auf diversen Filmfestivals wie der Diagonale gezeigt und kommt nun endlich auch regulär in die deutschsprachigen Kinos.

von Elli Leeb

Jakob (Simon Frühwirth) gibt sich ungewöhnlich ruhig, wirkt stets ein wenig passiv und scheint sich nicht so gut in der Realität zurecht zu finden. Schon bald wird klar, dass der in Wien gemeinsam mit seinem Vater (Josef Hader) und seinem Großvater (Wolfgang Hübsch) lebende Teenager unter schweren Angstattacken leidet. Als dann auch noch sein Großvater, der gewissermaßen seine wichtigste Bezugsperson darstellt, verstirbt, sucht er Zuflucht in virtuellen, surrealen und fiktiven Welten. So macht er in den Online-Sex-Portalen, auf denen er sich nachts meist noch herumtreibt, die Bekanntschaft von Kristjan (Paul Forman), der ihm fortan auch im vermeintlich realem Leben begegnen wird.

Gemeinsam mit dem technoaffinen Kristjan stellt sich Jakob mehr und mehr seinen Ängsten und begibt sich auf einem Weg der Selbstfindung, wobei man sich als Zuseher und Zuseherin stets fragen muss, was beziehungsweise auch wer nun wirklich real ist, oder was lediglich Jakobs Fantasie entspringt. Schmidinger gelingt ein filmisch sehr zeitgemäßer Umgang mit den Thematiken wie Angstzustände, Sexualität und Clubkultur.

Dabei stehen Jakobs homosexuellen Bedürfnisse nie im Vordergrund, sondern stellen mehr eine natürliche Selbstverständlichkeit dar. Schmidinger selbst, von dem laut eigenen Aussagen viel Autobiografisches in dem Spielfilm zu finden ist, bezeichnet diesen Zustand als „post-gay“, womit er genau jene nicht den zentralen Konflikt darstellende sexuelle Orientierung meint.

Interessant sind so beispielsweise die Parallelisierungen à la Eisenstein von aufgeschlitzten Schweinekörpern im Schlachthaus, in dem Jakob tagsüber einen Nebenjob ausübt, mit homosexuellen Pornosequenzen, die er sich nachts online ansieht. Zwei kontrastierende Thematiken werden hier in der Montage zusammengefügt und verdeutlichen nochmals Jakobs durcheinandergewühlte Psyche.

Auch die Clubszenen bleiben aufgrund des Einsatzes von stroboskopischen Effekten gepaart mit einem delirierenden Techno-Soundtrack, der von dem Wiener DJ und Veranstalter der in Technokreisen bekannten Meat-Market-Reihe Gerald Wenschitz produziert wurde, besonders in Erinnerung.

Gegen Ende des Films spitzen sich derartige Szenen zu, die zwar gekonnt das immer dichter werdende Gefühlschaos der Hauptfigur vermitteln, jedoch auch zu Verwirrung beim Publikum führen. Wer auf Antworten auf die während des Films aufgeworfenen Fragen hofft, wartet vergeblich. Schmidinger setzt hier vor allem auf mysteriösen, atmosphärischen Feinsinn und versucht erst gar nicht, das Gesehene aufzulösen.

„Nevrland“ lebt aber nicht lediglich von der tranceartigen Stimmung, die durch die Kamera und dem Soundtrack erzeugt wird, sondern auch von seinem Hauptdarsteller Simon Frühwirth. Dieser stand zuvor noch nie vor der Kamera, überzeugt aber vor allem mit intensivem Bick und glaubwürdiger Mimik.

Fazit

Gregor Schmidingers Langfilmdebüt „Nevrland“ lässt sich keinem spezifischen Genre zuordnen und lässt sich auch sonst schwer kategorisieren. Der introvertierte 17-jährige Jakob fühlt sich tagein, tagaus merkwürdig ausgeschlossen, leidet unter massiven Angststörungen, aufgrund derer er sich immer wieder in virtuelle, fiktive und auch surreale Welten flüchtet. 88 Minuten lang wird der Film zu einem fortwährend immersiv werdenden Erlebnis, bei dem sich nicht nur die Hauptfigur auf eine Reise nach „Nevrland“ begeben soll, sondern auch der Zuseher und die Zuseherin gewissermaßen hineingezogen werden. Somit stellt der Film eine äußerst zeitgemäße filmische Umsetzung von Körperlichkeit und der menschlichen Psyche dar.

Bewertung

8 von 10 Punkten

Bilder: © Filmladen Filmverleih