Bei dem isländischen Drama „Weißer weißer Tag“ handelt es sich um das Zweitwerk des Autors und Regisseurs Hlynur Pálmason. Der Film, der 2019 im Rahmen der internationalen Kritikerwoche in Cannes gezeigt wurde, erzählt vor der malerischen Kulisse des ländlichen Islands die Geschichte eines alternden Polizisten, der nach dem Tod seiner Ehefrau zum Opfer seiner Trauer und Rachsucht zu werden droht.
von Paul Kunz
Der Beginn von „Weißer weißer Tag“ zeigt uns ein Auto, dem wir folgen, während es sich durch nebelverhangene, gewundene Landstraßen bewegt. Wir sehen nicht, wer darin sitzt, als es in einer Kurve von der Fahrbahn abkommt und einen Abhang hinunterstürzt. Später erfahren wir, dass es sich um die Frau des Kleinstadtpolizisten Ingimundur (hervorragend: Ingvar Sigurðsson) handelte. Dieser ist nun vom Dienst suspendiert und verbringt die Zeit deshalb mit Renovierungsarbeiten an seinem Haus. Dort sollen einmal die Kinder einziehen. Die stille Trauer Ingimundurs wird jedoch zunehmend mit Rachsucht vermengt, denn in ihm erhärtet sich der Verdacht, dass seine Gattin einen Liebhaber gehabt haben könnte. Als der Witwer zunehmend besessen von der Suche nach Beweisen für die Affäre wird, drohen der Schmerz und die Wut bald einen Keil zwischen ihn und seine achtjährige Enkelin Salka (Ída Mekkím Jöymsdóttir) zu treiben.
Pálmason hat für die Geschichte ein äußerst langsames Tempo gewählt und erzählt vor allem mit Hilfe überaus stiller, nachdenklicher Bilder. Das fühlt sich gelegentlich so an, als würde der Film die Handlung gar nicht wirklich berichten, sondern vielmehr streifen – als wolle das Geschehen erahnt werden. So blicken wir beispielsweise früh im Film mehrere Minuten lang auf das unfertige Familienhaus, wie es statisch in der einsamen isländischen Landschaft steht, während die Jahreszeiten vorüberziehen. Vermittelt wird der Seelenzustand von Ingimundur, der trotz verstreichender Zeit nicht heilen kann. Aber nicht immer geht diese Erzählweise auf: weitaus weniger gelungen ist etwa eine alberne Sequenz, in der ein Felsbrocken nicht enden-wollend einen Abhang hinunterkullert. Und auch wenn der etablierte visuelle Stil und der gemächliche Rhythmus über große Strecken überaus stimmig sind, schlägt die kraftvolle Langsamkeit gelegentlich auch in Langeweile um.

Getragen wird der Film eindeutig von Hauptdarsteller Ingvar Sigurðsson, der in Island schon lange als großes Schauspieltalent bekannt ist. Er verleiht Ingimundur scheinbar mühelos einen ganzen Ozean an Tiefgang. In der Stille, die den dialogarmen Film dominiert, schafft es Sigurðsson durch Körpersprache und Mimik ganz genau zu vermitteln, was in Ingimundur vorgeht. Subtil lässt er erahnen, welche emotionale Gewalt zu jedem Zeitpunkt unter der Oberfläche brodelt und sorgt somit dafür, dass der Abstieg in den wahnhaften Racherausch für die meiste Zeit greifbar bleibt. Dass die Eskalation zum Ende des Films sich dennoch zu schnell anfühlt, kann aber auch sein beeindruckendes Spiel nicht verhindern. Beachtenswert ist auch die Darstellerin der Enkeltochter Ída Mekkím Jöymsdóttir, die trotz jungen Alters bereits eine überzeugende schauspielerische Leistung abliefert. Die liebevollen Momente zwischen den beiden Hauptdarstellern gehören zu den wärmsten des Films und machen die drohende Entfremdung ihrer Figuren umso herzzerreißender.
Fazit
„Weißer weißer Tag“ ist eine feinfühlige Charakterstudie, die aufgrund einer interessanten Inszenierung und der hervorragenden schauspielerischen Leistung von Ingvar Sigurðsson zu berühren weiß. Rhythmus und Bildsprache sind zwar für die meiste Zeit überzeugend, können das Niveau aber nicht konstant aufrechterhalten. Sehenswert ist der Film allemal.
Bewertung
7 von 10 Punkten
Bilder: (c) Polyfilm