von Marius Ochs

Das Jahr 2020 leitete das neue Jahrzehnt turbulent ein. Zu Beginn des Jahres, lange scheint es her zu sein, wurde viel über die Weimarer Republik und die Goldenen Zwanziger geschrieben. Parallelen wurden gesucht, teilweise gefunden, teilweise auch nicht. Exzesse, nihilistische Lebensfreude oder das Erstarken rechter Gesinnungen gab es damals wie heute. Genau deshalb trifft eine Neuinterpretation von Alfred Döblins Referenzroman „Berlin Alexanderplatz“ den Zeitgeist. Anstelle des 1929 beschriebenen Ex-Häftlings Franz Biberkopf stellt sich heute der zu technoiden Klängen tanzende afrikanische Flüchtling Francis dem Kampf gegen die Metropole Berlin. Funktioniert diese Rekontextualisierung oder hat sich Regisseur Burhan Qurbani mit seinem Drei-Stunden-Epos übernommen?

Die Antwort ist eindeutig: Der Film funktioniert sowohl als eigenständiges Werk, als auch als Neuinterpretation von Biberkopfs Scheitern hervorragend. Da mit Rainer Werner Fassbinders Serie schon eine hochgelobte Adaption des Stoffes vorliegt, macht es mehr Sinn, den Film als eigenständiges, zeitgenössisches Produkt zu betrachten. Er ist kein Versuch der textgetreuen Adaption und dogmatischen Modernisierung des Werks, vielmehr nutzt Qurbani die Struktur des zugrunde liegenden Romans, um die tieferliegenden Themen zwar als historisch verändert, aber universell gültig darzustellen.

Die Handlung gibt dabei einen Einblick in die diversen Problematiken, die der Film behandelt: Francis, Flüchtling aus Bissau, will sich als guter Mensch in die deutsche Gesellschaft einfügen. Missverstanden und diskriminiert schließt er sich aber schnell der Organisation des kriminellen Reinhold an. Der Erfolg scheint der Entscheidung recht zu geben – raus aus dem Flüchtlingsheim, rein in den schicken Berliner Altbau. Geblendet davon gibt Francis bereitwillig die Macht über sich selbst an Reinhold ab, der das Machtgefälle eiskalt ausnutzt. Immer tiefer hineingezogen in diesen Mahlstrom verliert Francis, der jetzt Franz heißt, nicht nur seinen Namen und seinen Arm, sondern auch die eigene Identität und das ursprüngliche angestrebte Ideal, ein guter Mensch sein zu wollen.

Wie kann man sich in eine Gesellschaft einfügen, die scheinbar alles in ihrer Macht stehende tut, um diese Integration zu verhindern? Kann man, trotz all der schlechten Einflüsse um einen herum, „gut“ sein? Mit Fragen wie dieser konfrontiert „Berlin Alexanderplatz“ seine Zuschauerinnen und Zuschauer über die gesamte Laufzeit. Doch die Antworten, die der Film anbietet, sind nie leicht und zu keinem Zeitpunkt eindeutig. Bei der Darstellung schwankt der Film dabei zwischen hartem Realismus und einer stark stilisierten Bildsprache. Die Ästhetisierung dieser schwer verdaulichen Geschichte ist dabei die größte Stärke des Films: Egal wie schrecklich die Ereignisse auch sind, die Bilder zwingen zum Zuschauen. Schon lange hatte kein deutscher Film solch eindrucksvoll komponierte Bilder, die in den besten Momenten poetische Züge aufweisen. Wie Döblins expressive Romansprache in moderner Hochglanzoptik zum Leben erweckt wird ist ganz großes Kino.

Die zweite große Stärke des Films sind zweifelsohne die Darsteller, allen voran Albrecht Schuch, der diesen Film in der Rolle des psychopatischen Reinhold trägt. Ob der Film ohne ihn auch nur annähernd so gut gewesen wäre, darf hinterfragt werden. Tritt er in einer Szene auf, gehört sie ihm. Seine Präsenz ist so stark, dass er auch in den Gesprächen der anderen Charaktere immer eine unterschwellige Rolle spielt. Liest man seine Persona als Teil von Francis‘ Psyche, wird die Figur des Reinhold zum personifizierten Bösen, das harmlos aussieht, aber in uns allen schlummert. Zu Recht wurde er für diese Darstellung mit einem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, auch wenn das gesamte Ensemble zu überzeugen weiß.

So gelungen die Neuinterpretation aber auch sein mag, stellt sich letztlich doch die Frage wie glücklich die Entscheidung war, die Rolle des im Roman leicht schwachköpfigen Franz Biberkopf auf den afrikanischen Flüchtling Francis zu übertragen, der letztlich als Hauptcharakter die Schwäche des Films darstellt. Francis ist, romangetreu, eine Marionette der äußeren Einflüsse und hat als solche keine nachvollziehbaren Gefühlsregungen. Die Faszination gilt der Geschichte, nicht seinem Leiden. Das erschwert merklich die den emotionalen Zugang und die Identifikation. Ob Identifikation jedoch das Ziel des Films ist oder dieser eher auf eine fabelhafte und poetische Darstellung eines größeren Zusammenhangs abzielt, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden.

Fazit

„Berlin Alexanderplatz“ ist eine Wucht. Über 180 Minuten hat schon lange kein Film mehr so kompromisslos mitgerissen. Schauspielerische Meisterleistungen gehen mit starken, ästhetischen Bildern eine hypnotische Symbiose ein, die der Geschichte den perfekten poetischen Rahmen gibt um wichtige Fragen zu stellen und realistisch-ambivalente Antworten zu liefern, die schon die Romanvorlage ausgemacht haben. Der Film von Burhan Qurbani sollte dennoch als eigenständiges Werk begriffen werden, das seine Aussagen sowohl in einem gesellschaftlichen als auch politisch aktuellen Kontext schonungslos schön übermittelt. Einer der besten deutschen Filme der letzten Jahre.

Bewertung

8 von 10 Punkten

Bewertung: 8 von 10.

Bilder: ©2019 Sommerhaus/eOne Germany