„Der Große Bruder beobachtet dich“, prophezeite George Orwell einst in seiner Dystopie “1984”. Hätte er sich denken können, dass der Große Bruder in der Realität keine ideologisch verklärte Regierung sein wird, die unser aller Denken umstrukturiert? Wir sehen uns heutzutage eher einer subtilen marktgetriebenen Maschinerie gegenüber, die unsere Leben erträglicher, besser, sozialer zu machen scheint. Aldous Huxleys “Brave New World” scheint diese düstere Prophezeiung mit hellem Anstrich besser erkannt zu haben: „Noch nie waren so viele so sehr wenigen ausgeliefert.“ Doch was, wenn selbst diese wenigen Mächtigen nicht mehr genau verstehen, wie genau diese Auslieferung funktioniert? Dieser Frage geht die neue Netflix-Doku „The Social Dilemma“ nach. Sie lässt Stimmen aus der Tech-Branche erklingen, die eine leider wenig fiktive Dystopie nachzeichnen, die wir das Jahr 2020 nennen. Die Medienapokalypse ist da.
von Marius Ochs
Die Doku befasst sich, wie der Titel andeutet, mit den sogenannten Sozialen Medien und ihren Auswirkungen auf die Psychologie ihrer Produkte – uns, den Benutzern. Schonungslos erläutert “The Social Dilemma”, welchen Manipulationen wir tagein, tagaus auf der Mikro- und Makroebene unterworfen sind, was mitunter ziemliche erschreckend ist. Der obligatorische Blick aufs Smartphone, der uns wohl alle beim Netflix-Bingen verbindet, erscheint plötzlich wie ein feindlicher Eingriff in das eigene Leben.

Die Interviewpartner schwanken dabei zwischen resignierter Hoffnungslosigkeit, zynischer Akzeptanz und vorsichtiger Hoffnung. Was sich beim Zuschauen aber natürlich am tiefsten ins Gedächtnis brennt, sind die Schreckens-Diagnosen über unseren medial geschaffenen Abhängigkeits-Zustand. Konfrontiert mit der eigenen Ausbeutung möchte man häufig reflexartig die Augen schließen und weghören. Für Entspannung sorgen die fiktiven erzählerischen Einschübe, die den Expertisen eine narrativen Ebene hinzufügen. Nur: Dieses Thema braucht diese Ebene nicht, denn der Protagonist in diesem Szenario ist man eh selbst, das wird immer wieder deutlich.
Sei es der Pinterest-Gründer oder einer der Miterfinder des revolutionär unterkomplexen Like-Buttons: Keiner der Tech-Arbeiter würde seinen eigenen Kindern erlauben, soziale Medien vor einem bestimmten Alter zu nutzen. Der niedergeschlagene Konsens der Insider in fast jeder Frage ist erschreckend. Die Maschine hat die Kontrolle übernommen. Kein Skynet war nötig, nur Facebook und Co. Die Menschheit hat die Kontrolle verloren. Keine überraschende Erkenntnis, denn neu ist die Information nicht neu. Die gut getakteten Interview-Schnipsel der vielfältigen und informativen Interviewpartner sind aber mit einer Kohärenz und Präzision zusammengestellt, die einem das ganze Bild noch einmal überdeutlich aufzeichnen. Bevor die Doku dann mit Empfehlungen für den eigenen Medienkonsum endet, möchte man am liebsten alle Apps löschen. Konditionierung und Abhängigkeit sind jedoch zu stark: Man soll Push-Nachrichten abstellen, um wenigstens den ununterbrochenen Reizen zu entkommen. Die Lösungen scheinen lächerlich klein angesichts der zuvor geschilderten Probleme.

Fazit
“The Social Dilemma” erzählt zwar wenig Neues, doch die Doku zeichnet das Bild unserer digitalen Knechtschaft konsequent und erschreckend. Die glaubwürdigen Interviewpartner aus der Branche halten dem Zuschauer vor Augen, in welcher Maschinerie er gefangen ist. Weder Orwell, noch Huxley haben diesen Mahlstrom unserer Realität vorausgesehen – Dave Eggers kam mit “The Circle” schon näher an eine Prophezeiung: Wir sind der gläserne Bürger. Wir sind das Produkt. Wir ergeben uns diesem System und klatschen Beifall. Handwerklich macht die Doku dabei fast alles richtig, wäre da nicht die fiktive Familiengeschichte, die einen roten Faden geben soll. Der Versuch, durch diese Ebene eine Identifikation mit dem Thema herzustellen, ist schlicht überflüssig. Insgesamt beweist Netflix aber, dass die eigenproduzierten Dokumentationen es immer wieder schaffen, relevante Themen gut aufzuarbeiten. Eine klare Empfehlung.
Bewertung
(83/100)
Bilder: ©Netflix