„Size doesn’t matter“ sagt Dr. Ruth Westheimer mit schwerem deutschen Akzent. Dabei schmunzelt sie verwegen, denn die quirlige 92jährige ist selbst nur unverwechselbare 1,45 Meter groß. Doch trotz geringer Körpergröße feierte Dr. Westheimer in den 80ern gigantische berufliche Erfolge. Denn zu dieser Zeit revolutionierte sie die prüde US-amerikanische Medienlandschaft mit ihren Radio- und TV-Sendungen rund ums Thema Sexualität – einem Gegenstand, dem sie sich mit Direktheit, Kompetenz und Einfühlungsvermögen näherte. Regisseur Rhyan White setzt sich im Dokumentarfilm „Fragen Sie Dr. Ruth“ intensiv mit dieser spannenden Persönlichkeit auseinander. Ab 9.10. im Kino.
von Paul Kunz
Der Film zeigt dabei keineswegs nur Dr. Ruths Arbeit als TV-Sexualtherapeutin, sondern auch ihre schwierige Kindheit. Als Karola Westheimer 1928 in Frankfurt geboren, musste das Mädchen jüdischen Glaubens im Alter von 10 Jahren vor den Nationalsozialisten fliehen. Man brachte sie in ein Kinderheim in der Schweiz; ihre Eltern hat sie nie wieder gesehen. Diese Passagen bebildert der Film mit sehr ansehnlichen Animationen und lässt dazu aus Westheimers persönliche Tagebucheinträgen vorlesen. Das ist alles äußerst wertig umgesetzt, doch besonders berührend ist es, wie Westheimer erste romantische und sexuelle Erfahrungen vor dem düsteren Hintergrund der historischen Gegebenheiten schildert.
Nach dem Krieg ging Westheimer nach Israel, wo sie ihren deutsch-klingenden Vornamen Karola gegen ihren neutraleren zweiten Vornamen Ruth austauschte. Sie studierte an der Sorbonne und wanderte in die USA aus, wo ihre unwahrscheinliche Karriere mit einer Radio-Show über Sex begann. Der Film springt immer wieder zwischen Westheimers privater Biografie und ihrem Arbeitsleben hin und her und zeigt dabei eine Fülle an Archivmaterial des Energiebündels Dr. Ruth in ihrem Element: dabei geht sie in herzig großmütterlicher Weise auf Fragen zu Verhütung, Erektionsproblemen, Homosexualität und Masturbation ein. Im prüden Amiland bis dahin völlig unvorstellbar.

Westheimer bei ihrer Arbeit zuzusehen ist absolut unterhaltsam – völlig klar, denn dieser Unterhaltungswert hat ihr großen Ruhm verschafft. Und insofern überrascht es auch wenig, dass White sich so sehr darauf verlässt. Aber dann sprechen Personen aus Westheimers Familienkreis mehrfach an, dass das intensive Arbeiten Westheimers Art ist, persönlichen Problemen und der eigenen schwierigen Vergangenheit aus dem Weg zu gehen. Das erscheint nur allzu nachvollziehbar, doch es führt auch dazu, dass White es nie schafft, dass Westheimer ausführlich und ernsthaft von sich selbst erzählt. Dabei sind die kleinen persönlichen Momente oft die spannendsten. So hat es eine schöne Szene in den Film geschafft, in der Westheimer mit ihrer Enkeltochter über Frauenpolitik spricht und wieso sie Hemmungen hat, sich als Feministin zu bezeichnen.
Fazit
Schlussendlich wirkt es fast, als handle es sich bei „Fragen Sie Dr. Ruth“ um zwei Filme: einer über Westheimers Kindheit während des Nationalsozialismus und einer über ihr Wirken als Sexualtherapeutin. Beide beleuchten gelungen sehr unterschiedliche Aspekte ihres Lebens. Und es mag daran liegen, dass der Film dermaßen viel Fläche abzudecken versucht oder daran, dass Westheimer selbst sich nicht wohl damit fühlt, so viel von ihrem Leben preiszugeben, doch es bleibt der Wunsch nach ein wenig mehr Tiefgang. Das hätte einen aufschlussreichen und unterhaltsamen Film noch weiter bereichert.
Bewertung
(74/100)
Bilder: © Filmladen Filmverleih