Jahrzehnte lang hat Vitalina Varela in Kap Verde auf ihren Ehemann Joaquim gewartet, der vor langer Zeit ohne sie nach Portugal geflogen ist. Zwar hatte er versprochen, sie zu holen, doch dazu kam es sie. Nun ist Vitalina aber ins Flugzeug gestiegen. Sie kommt in Lissabon an, nur um die erschütternde Botschaft zu erhalten, dass sie zu spät gekommen ist. Das Begräbnis ihres Mannes war vor drei Tagen. Warum er sie zurückgelassen hat? Was er all die Jahre getan hat? Es sind Fragen, auf die Vitalina keine zufriedenstellenden Antworten finden wird.

von Paul Kunz

Der portugiesische Regisseur Pedro Costa hat gemeinsam mit der Protagonistin das Drehbuch erarbeitet. Sie ist die Frau, auf deren Leben der Film basiert und die sich darin auch selbst spielt – und das mit Bravour. Das stoische Gesicht der Laiendarstellerin lässt die harte Vergangenheit, den anhaltenden Schmerz und die fehlende Zukunftsperspektive erahnen. Costa und Kameramann Leonardo Simões fangen ihre Mimik aus verschiedensten Winkeln ein. Costa versucht allerdings weniger von Varelas Leben zu erzählen, als vielmehr ihren Status im Leben filmisch greifbar zu machen: ihre Trauer, ihre Wut, ihre Enttäuschung und ihre Hoffnungslosigkeit. Jede Einstellung im Film ist ein pechschwarzer Albtraum: Figuren, Gebäude, Straßenzüge werden stets von Finsternis umringt. Statisch, lähmend, ausweglos. In dieser Welt scheint es immerzu Nacht zu sein. In dieser Welt lebt man unter einem schwarzen Himmel, der auf die Slums von Lissabon drückt und sie als absolut unwirklichen Ort erscheinen lässt. Es ist eine finstere, schmutzige Hölle aus Beton.

Aber selbst wenn der Tag anbricht, ist nicht wirklich Tag, denn das innig herbeigesehnte Sonnenlicht spendet kaum Licht. Es ist höchstens hinter einer Türe erahnbar, fällt müde durch ein Gitterfenster und erinnert uns lediglich daran, dass wir es immerzu verpassen. Uns bleibt nur die quälende, erschöpfende Dunkelheit. Irgendwo im Off hört man die Spuren eines normalen Lebens: ein bellender Hund, ein weinendes Baby, sich unterhaltende Menschen. Dieses Leben, fern von endloser Dunkelheit, scheint manchmal ganz nah zu sein, gleich hinter der Tür, auf der anderen Seite der Mauer, bloß eine Gasse weiter – und doch erscheint die Vorstellung teilzunehmen, völlig unmöglich. Wer auch immer dort lebt, was auch immer da geschieht, wir dürfen nicht partizipieren.

Es gibt keine Dramaturgie, die das Geschehen rahmt. Selbst die Dialoge mit dem ebenfalls in die Hoffnungslosigkeit gestürzten Priester (Ventura), der Joaquim begraben hat, scheinen kaum echter Austausch. Die Figuren sprechen wenig, meist flüstern sie nur und wenn sie es tun, dann ist nie ganz klar: ist das ein Dialog? Sprechen sie miteinander oder zu sich selbst? Sprechen sie zu den Toten? Das führt zu einer auslaugenden Seherfahrung, die nicht befriedigt, die nicht unterhält, sondern frustriert und erschöpft. Und das mit Kalkül. In der Kinovorstellung, in der ich saß, sind viele Menschen während des Films gegangen. Sie haben den dunklen Kinosaal verlassen, um etwas eher zurück ans erlösende Licht zu kommen.

Fazit

„Vitalina Varela“ ist die Geschichte einer Frau, für die das Leben nichts mehr bereithält. Die Geschichte einer Frau, die enttäuscht wurde, verletzt und die mit einer Leere umgehen muss, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Das ist stark gespielt, filmisch virtuos umgesetzt – und mitunter qualvoll anzusehen. Neu im Kino und abrufbar bei Amazon Prime (MUBI Channel)!

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

(82 von 100)