Liest man sich Interviews mit gestandenen Größen verschiedenster Branchen durch, taucht eine Frage wiederkehrend auf: „Wenn Sie sich eine Superkraft aussuchen könnten, welche wäre das?“. Sportler, Filmstars und Musiker finden darauf die kuriosesten Antworten, doch alle eint die Faszination an der Vorstellung nicht vorstellbare Dinge möglich zu machen. Doch nicht nur Fliegen, ein Röntgenblick oder Kräfte abseits der Norm machen einen Superhelden aus – manchmal sind es auch, oder besonders, die kleinen Dinge.
von Cliff Lina
Denen widmet sich „The Innocents“, ein norwegischer Spielfilm, der unter anderem auf dem Fantasy Filmfest für Furore sorgen konnte und sich nun, nach vereinzelten Kinostarts, auch für das heimische Kino präsentiert. Im Grunde lässt sich das Werk als eine Mischung aus Drama und Fantasyfilm ganz gut umreißen, doch wer zwischen den Zeilen lesen kann und will, wird dem skandinavischen Genre-Mix mehr abgewinnen können als es den Anschein hat.

Die Geschichte folgt dabei vier Kindern in einer Wohnsiedlung, die rein äußerlich dem typischen Plattenbau nicht unähnlich ist. Ida ist mit ihrer autistischen Schwester Anna samt Eltern gerade erst eingezogen, als sie auch schon Ben und Aisha kennenlernt, die sie herzlich empfangen und ihr die Eingewöhnung erleichtern, denn nicht nur die neue Umgebung macht Ida zu schaffen – auch der Alltag mit ihrer großen Schwester belastet das Mädchen mehr als sie zugeben mag. Alles scheint auf einen eher typischen coming-of-age Film hinauszulaufen, bis plötzlich eine Szene im Wald für den ersten Schlag in die Magengrube sorgt und „The Innocents“ seine Unschuld verliert. Es folgt das knackende Geräusch eines gebrochenen Genicks, und hinter der unschuldigen Fassade offenbaren sich tiefschwarze Abgründe. Unbehagen macht sich breit, eingefangen in ruhigen Bildern, die beinahe sphärisch auf den Zuschauer einwirken und kontrastreich dem Entsetzen gegenüberstehen, welches fortan die Stimmungslage beherrscht.
Dabei ist es nicht einmal die grafische Explizität, die den Film so eindringlich werden lässt. Vielmehr ist es die Art und Weise, wie sich die Story nuanciert entfaltet. Als Erwachsener mit anzusehen, wie kindliche Naivität auf verrohte Empathielosigkeit trifft, ist wahrlich hart und stellenweise kaum auszuhalten. Ständig drängt sich die Frage nach Warum auf, die Suche nach einem Schuldigen für das, was sich erzählerisch abzeichnet und irgendwann nicht mehr aufhalten lässt. So deutet „The Innocents“ vieles nur an, schafft es mit einer einzelnen Szene jedoch eine komplette Hintergrundgeschichte im Kopf entstehen zu lassen. Vier Kinder, geprägt von Gewalt und Vernachlässigung, einer sozialen Isolation und nicht zu schulternder Verantwortung, die plötzlich zueinanderfinden, sich Halt geben können und gegen das stellen, was ihnen Angst macht. War es in einem Moment noch die blanke Abscheu gegenüber einzelnen Charakteren, beschleicht einen nur Minuten später plötzlich ein Anflug von Mitleid. Thematisch sprudelt das Drehbuch nur so vor Ideen, kann diese logisch verknüpfen, verpasst es aber anderseits auch den Unterhaltungswert durchgehend hochzuhalten.
Aller Virtuosität und Varianz zum Trotz gestalten sich die nahezu zwei Stunden Laufzeit nämlich phasenweise ziemlich zäh, vor allem weil vieles erahnbar wird und man als Zuschauer nur darauf wartet wie und wann die Geschehnisse ihren Lauf nehmen. Aufgefangen wird dieser Kritikpunkt hingegen von der guten, weil authentischen Schauspielleistung aller involvierten Akteure. Gerade vor dem Hintergrund, dass die jüngeren Darsteller das Drehbuch sicherlich nur auszugsweise zu Gesicht bekamen und die Story für sie somit abstrakt blieb, überraschen die Darbietungen nochmal mehr und lassen einen des Öfteren erschaudern. Besonders eindrucksvoll ist der Umstand, dass „The Innocents“ nie die plakative Zurschaustellung als Mittel wählt, sondern stets die Erzählung fokussiert, die durch vereinzelt drastische Szenen spielerisch an Intensität gewinnt, ohne jemals Gefahr zu laufen seine Moral der Gewalt zu opfern. Der Film lässt einen mit dem Gesehenen zurück, urteilt nicht und lässt Raum für die eigene, differenzierte Betrachtung. Dieser bedarf es auch, denn das norwegische Drama ist einer dieser Filme, die nach der Sichtung erst so richtig anfangen in den Köpfen zu rotieren.

Fazit
In „The Innocents“ prallen dramaturgisch geerdete und übernatürliche Elemente aufeinander und ergeben ein höchst ungewöhnliches, fast schon unangenehmes Seherlebnis, das mit seiner skandinavischen Unterkühltheit befremdlich und doch authentisch wirkt. Eine fordernde, weil thematisch beladene Sozialstudie dysfunktionaler Familienstrukturen, kreativ inszeniert, nur leider gegen Ende auch deutlich zu lang. Ab 29. Juli 2022 als 2-Disc Limited Collector’s Edition im Mediabook (Blu-ray + DVD), als DVD und Blu-ray und ab 21. Juli 2022 digital erhältlich.
Bewertung
(70/100)
Bilder: ©Capelight Pictures