Wenn man davon ausgeht, dass gerade außergewöhnliche Namen für Figuren nicht zufällig, sondern mit Absicht gewählt werden, so sollte Atlas als Name der Hauptfigur im gleichnamigen Netflix-Film einen gewissen Aufschluss über die Bedeutung oder Funktion eben jener Figur geben. Wenn man also davon ausgeht, dass die mythologische Figur Atlas die gesamte Welt schultert, was schultert dann Atlas?

von Richard Potrykus

“Atlas” ist der neueste Sci-Fi-Actionfilm von Netflix und wurde unter der Regie von Brad Peyton inszeniert, der bereits für die Umsetzungen von “San Andreas” (2015) und “Rampage” (2018) verantwortlich zeichnete. Wie üblich bei Netflix-Produktionen, geizt auch “Atlas” nicht mit Namen und so sind mit Jennifer Lopez, Simu Liu und Mark Strong drei bekannte Schauspielgrößen mit am Start, die über eine Laufzeit von zwei Stunden weit hinter ihren Möglichkeiten bleiben dürfen.

Durch kontinuierlichen technischen Fortschritt wurden Robotik und künstliche Intelligenz so weit entwickelt, dass sie ein eigenes Bewusstsein erhielten. Im Zuge dieser Entwicklung wandte sich der menschlich aussehende Roboter Harlan (Simu Liu) zunächst gegen seine Erbauerin und schließlich gegen die ganze Menschheit. Es kam zum Krieg gegen die KI und zum Genozid an den Menschen. Schließlich floh Harlan von der Erde. Hierauf wird nun die titelgebende eigenbrötlerische KI-Analystin Atlas Sheperd (Jennifer Lopez) aufgefordert, die Militärorganisation ICN dabei zu unterstützen, Harlan zu finden und gefangen zu nehmen.

In der Folge muss sie sich mit Smith, der KI eines Mech-Kampfanzuges, (gesprochen von Gregory James Cohan) zusammentun, was ihr ziemlich widerstrebt. Atlas widerstrebt diese Kooperation insofern, als dass sie hierfür einen sogenannten Neuralink verwenden müsste. Neuralinks ermöglichen die Verbindung zwischen dem menschlichen und dem künstlichen Bewusstsein. Atlas ist die Tochter der Ingenieurin, die nicht nur den Neuralink, sondern auch Harlan entwickelte, und Zeugin des Augenblicks, als sich Harlan gegen die Menschheit wandte.

“Atlas” ist ein Actionfilm, der viel auf CGI-gestützte Bilder setzt und entsprechende Schauwerte bereithält. Dabei gibt es vor allem viele Explosionen und digitale Displays, die im Raum herumschwirren. “Atlas” ist kein Werk, das aus sich heraus entstanden ist, und bietet zahlreiche Versatzstücke zu anderen Filmen und Serien, weshalb alles, was im Film vorkommt, irgendwo schon einmal gesehen werden konnte. So gibt es die Displays in “Minority Report” (2002), ebenso wie in der Serie “The Expanse” (2015-2022), und kennt man die Mechanzüge aus “Pacific Rim” (2013), sowie zahlreichen Vorgängern und Nachfolgern.

Der einzige fremde Planet des Films wird in reinster Weltraum-Sci-Fi-Manier mit eingeblendetem Namen vorgestellt, einer Tradition, die seit “Star Wars” (1977) allgegenwärtig ist, und der Hass des Antagonisten auf die Menschheit entspringt den Reinigungsideen zahlreicher Vorgänger, nach denen die Erde gerettet ist, wenn der Mensch dezimiert oder vollkommen vernichtet. Das alles ist überhaupt kein Problem und dem Film in keiner Weise vorzuwerfen. Niemand erwartet von einem Film, das Rad neu zu erfinden. Viele schöne Filme folgen den klaren und etablierten Strukturen des Genres und den damit verbundenen Ikonografien und Ideen, und alle kommen sie solide ans gewünschte Ziel. Und “Atlas” hat hier auch gute Ansätze. Zudem funktioniert die Chemie zwischen der Hauptfigur und der KI sehr gut. Hier wird mit angenehmen Dialogen, flotten Sprüchen und Sarkasmus gearbeitet. Zwar zündet nicht jeder Gag, aber das tut der Sache an sich keinen Abbruch.

Leider ist mit den Wortgefechten zwischen Atlas und Smith der große Pluspunkt des Films schon umrissen. Davon abgesehen wirkt “Atlas” unausgegoren und stellenweise zäh und das liegt eindeutig am Drehbuch. Die Erzählung wird zugunsten der Effekte vernachlässigt. Ein kongruentes World Building findet nicht statt. Es ist der immerwährende Klassiker, dass der Held oder die Heldin zudem mit irgendeiner Art von Trauma zu kämpfen hat, welches vor der Filmwelt und auch vor dem Publikum bis zu dem Moment versteckt wird, da es nicht mehr verheimlicht werden kann und aus der Figur herausbricht. Damit sich aber alle im Publikum auch auf jeden Fall mit diesem Problem identifizieren und es größtmögliche Affekte auslösen kann, wird das Trauma immer wieder bruchstückhaft gezeigt. Es ist damit ein Teil der Exposition, der als ultimativer Twist verkauft wird und sich dann entpuppt als Moment, der mehr Fragen aufwirft statt sie zu beantworten. Den Twist hätte es nicht gebraucht, weshalb auch das begleitende Szenenmaterial eigentlich überflüssig ist. Die Filmlänge, die, gemessen am Inhalt, mit zwei Stunden beachtlich ist, hätte so gekürzt werden können.

Manchmal zahlt es sich aus, einem Film Überlänge zu geben, vorausgesetzt, man hat etwas zu erzählen. Wenn aber das Finale des Films ohnehin “nur” auf einen Kampf hinausläuft, der zudem noch Referenzen an “Terminator 2” (1992) und den Balrog aus “Der Herr der Ringe” (2001), so hätte man auch den Weg hin zum Finale schlanker und kurzweiliger halten können.

Fazit

Das Buddy-Geplänkel zwischen Atlas und Smith ist cool geraten und macht Laune. Darüber hinaus will der Film viel und scheitert an den Basics. Vieles wirkt unausgegoren, vor allem das Verhältnis der Menschen zur Technik. In Frank Herberts Roman “Dune” (1968) gibt es einen Krieg der Menschheit gegen KI, weshalb es in der Zukunft zwar Technik, aber keine intelligenten Computersysteme gibt. In “Atlas” scheint niemand auch nur eine Lehre aus der Katastrophe gezogen zu haben. Es scheint, als hätte man eine gute Idee für die Urkatastrophe gehabt, im weiteren Verlauf aber nicht auf diese Idee verzichten wollen. Die Neuralink-Technologie wurde ausgebaut und allerorts helfen KI-dominierte Systeme dabei, das Leben jedes einzelnen (verbliebenen) Menschen zu regeln. Statt die KI einzudämmen und sich der Bedeutung dieser fragilen Grenze zu stellen, wird der Fortschritt so weit auf die Spitze getrieben, dass KI-Systeme davon sprechen, selbst zu leben, und ihr Bewusstsein dem Konzept der menschlichen Seele gleichsetzen.

Diese zugegebener Maßen interessanten philosophischen Ansätze, die schon in “Blade Runner” (1982) thematisiert werden, erhalten aber leider nicht die Tiefe und Dimension des Klassikers von Ridley Scott und gehen unter in der ohnehin inkongruenten filmischen Welt und dem notdürftigen World Building. Wer sich berieseln lassen möchte, kann sich “Atlas” gerne ansehen. Atlas und Smith entschädigen über weite Strecken. Wer aber einen niveauvollen Sci-Fi-Film erwartet, wird von diesem Film enttäuscht werden.

Bewertung

Bewertung: 5 von 10.

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Bild: (c) Netflix