Im Rahmen der diesjährigen Berlinale Special Gala wurde der Dokumentarfilm „Tina“ gezeigt, der das Leben der Rock’n’Roll-Ikone über die Jahrzehnte hinweg darstellt: der Beginn ihrer Karriere, die häusliche Gewalt, die sie durch ihrem Ehemann Ike erlitt und ihr Werdegang zur Ikone, die sie heute ist. Gemeinsam mit Kolleg/innen zahlreicher internationaler Medien saßen wir am virtuellen runden Tisch, um den beiden Regisseuren T.J. Martin und Dan Lindsay Fragen zu „Tina“ zu stellen.

Von Paul Kunz

Ihr sprecht im Film das dunkle Thema häuslicher Gewalt an. Habt ihr dabei eine Verantwortung gespürt, die sich nicht nur auf Tina und ihre Geschichte, sondern auch auf andere Überlebende häuslicher Gewalt erstreckt?

T.J. Martin: Der Grund, warum wir für den Film diese Richtung eingeschlagen haben, war, weil wir beim Treffen mit Tina Turner herausgefunden haben, dass ihre Vergangenheit sie nach wie vor verfolgt. Sogar im heutigen Kapitel ihres Lebens. Das hat uns erkennen lassen, dass es im Film nicht nur darum gehen könnte, im Reinen mit dem eigenen Narrativ zu sein, sondern auch darum, ein Licht auf die Erfahrung einer Überlebenden zu werfen.

T.J. Martin

Der Thematik verlangt natürlich nach Feingefühl – auch wenn man bedenkt, dass viele Frauen und Männer so etwas durchgemacht haben. In diesem konkreten Fall haben wir uns die Frage gestellt: Wie ist es für eine Überlebende, wenn wir alle an diesem Narrativ teilnehmen? Und wenn wir glauben, wir haben ein Verständnis für dieses Narrativ? Und wenn wir sie darum bitten, es erneut durchzuleben, in dem sie darüber spricht? Was macht das mit einem? Tina war ehrlich genug sich verletzlich zu zeigen und ihre Geschichte zu teilen und die Welt hat diese Geschichte aufgenommen. Das hat Tina dabei geholfen, eine Ikone zu werden und hat sie als ein Symbol verfestigt. Aber als sie ein Symbol wurde, vergaßen wir gleichzeitig, dass sie auch eine Überlebende war.

Dan Lindsay: Als wir erfuhren, dass wir Zugang zu den Aufnahmen hatten, in denen sie darüber spricht, wussten wir, dass wir das in unseren Interviews erforschen mussten. Wir haben so viel darüber gesprochen, wie sie es wollte. Manchmal spricht sie auch von selbst darüber – also man spricht über etwas anderes und sie bringt es zurück zu Ike. Was uns besonders interessiert hat, war ihre Erfahrung und wie sie heute damit lebt, weil wir die Einzelheiten schon in anderer Form hatten.

Gegen Ende des Films spricht Tina Turner darüber, dass der Film auch eine Art Schlusskapitel ist. Habt ihr ihr das von Anfang an so präsentiert, damit sie zustimmt, beim Film mitzumachen? Oder wurde das erst während der Gespräche mit ihr offensichtlich?

Dan Lindsay

Dan Lindsay: Das war definitiv keine Intention von uns, als wir mit dem Film begonnen haben. Das entsprang unseren Interviews mit ihr. Am ersten Interview-Tag – wir haben uns gerade erst vorbereitet, ich habe sie gefragt, wie es ihr geht – da sagte sie: „Ich will das hier nicht machen.“ Also haben wir dort angesetzt. Sie gefragt, warum sie das nicht machen will. Wir haben über ihre Probleme mit posttraumatischer Belastungsstörung gesprochen. Und sehr früh im Interview hat sie die Frage formuliert, wie man einen Schlussstrich macht und sich zurückzieht.

Tina hat gearbeitet, seit sie 18 Jahre alt ist. Bei der ersten Band, die sie je gesehen hat, kam sie auf die Bühne um zu singen und hat dann die nächsten 60 Jahre als Perfomerin gearbeitet. Das hatte einen Preis. Heute ist sie an einem Punkt angelangt, an dem sie einfach in ihrer wohlverdienten Villa am Meer sitzen und sich entspannen möchte. Und das kam nicht von uns, sondern das wurde im Gespräch mit ihr klar.

Wenn man die Aussagen richtig deutet, hat Tina ihre Biografie und auch den Spielfilm gemacht, weil sie Ike loswerden wollte. Wieso hat sie dann zugestimmt, jetzt diesen Dokumentarfilm mit euch zu machen? Das ist ja eine niemals endende Geschichte.

T.J. Martin: Es gab keinen singulären Moment, an dem Tina sagte: „Dies und jenes ist der Grund, warum wir den Film drehen.“ Der Film handelt von ihrem komplizierten Verhältnis zum eigenen Narrativ. Ich glaube, einer der Gründe ist die gerade angesprochene Möglichkeit des Rückzugs. Dann wäre dieser Film so etwas wie ein Vermächtnis.

Ein anderer Grund war, dass sie und ihr Ehemann unseren Zugang zu der Geschichte sehr mochten; dass man Tinas Beziehung zu ihrem Narrativ verstehen muss um Tina zu verstehen. Die Geschichte Tina Turner und die Person Tina Turner sind untrennbar miteinander verbunden. Ich glaube auch, dass der Film eine Möglichkeit für sie darstellt, ihre Geschichte auf eine Art zu erzählen, die für sie authentisch ist.

Dan Lindsay: Wir sind in vielerlei Hinsicht Tina gefolgt, haben uns von den Gesprächen mit ihr führen lassen. Als wir ihr den Film dann gezeigt haben, waren wir enorm nervös. Aber sie meinte, dass sie den Film mochte und dass sie ihn in einem friedlichen Zustand ansehen konnte. Er hatte nicht die Wirkung auf sie, die sie angenommen hatte. Vielleicht bedeutet das, dass sie eine Art von Frieden gefunden hat – auch, wenn sie nicht ganz abgeschlossen hat. Darin liegt eine gewisse Ironie, da sie ja auch noch heute über Ike spricht. Und die Wahrheit ist, das alles hat ihrer Karriere geholfen. Es ist eine sehr komplizierte Situation und wir versuchen sie im Film als solche zu präsentieren.

Tinas Beziehung zu ihrem Körper und wie sie sich bewegte – damit war sie ihrer Zeit voraus. Ist sie sich ihres enormen Einflusses bewusst?

Dan Lindsay: Oprah hat einmal gesagt, es gäbe keine Beyoncé ohne Tina. Und ja, es gibt eine lange „Erblinie“ an Personen, die sie inspiriert hat. Herrgott, ihr wird nachgesagt, sie hätte Mick Jagger das Tanzen beigebracht! Ihr Einfluss ist groß und er umfasst Jahrzehnte. Und dessen ist sie sich sehr bewusst.

T.J. Martin: Ja, absolut! Unser Film handelt ja gar nicht so sehr davon, Tinas Kunst zu beleuchten, sondern ihre Geschichte zu erzählen. Aber dann gibt es diese Momente, in denen man für lange Zeit Performances von ihr sieht – da merkt man sofort, was für eine starke Sängerin und Tänzerin sie ist. Und obwohl sie einen riesigen Einfluss auf heutige Popstars hat, ist das manchmal schwer zu erkennen. Man sieht immer nur Spuren hier und dort, weil man sehr schlecht ihren ganzen Stil kopieren kann. Dafür ist er viel zu sehr Tina.

Welche Teile des Films wurden vorab geplant und welche wurden während des Drehs ausgearbeitet? Hatte die Covid19-Pandemie auch Einfluss auf Produktion oder Vertrieb?

T.J. Martin: Wir hatten von Anfang an die sehr klare Absicht, die Geschichte um Tina Turner so zu erzählen, dass man verstehen würde, dass die echte Person eine Beziehung zu der erschaffenen Figur hat. Es gab Entdeckungen auf dem Weg dorthin, zum Beispiel die Beschränkung der befragten Personen. Wir hatten eine riesige Liste an potenziellen Gesprächspartner/innen. Aber wir haben uns entschieden, uns auf die Stimmen zu beschränken, die eine intimere Beziehung zu Tinas Geschichte hatten, wie Rhonda Graam, die Tina sechs Jahrzehnte ihrer Karriere begleitete. Oder Menschen, die an der Schöpfung ihres Narrativs beteiligt waren: Kurt Loder, der ihre Biographie geschrieben hat. Carl Arrington, der den Artikel geschrieben hat. Angela Bassett, die sie im Spielfilm verkörpert hat. Ihre Stimmen haben wir benutzt um die geschaffene Figur und das Narrativ um Tina zu konstruieren. Aber um die Frage zu beantworten: wir hatten eine klare Intention, es ging nur um die Frage der Umsetzung während des Drehs.

Dan Lindsay: Und bezüglich der Pandemie: wir wussten sehr früh, dass wir an den echten Orten sein wollten, wo diese Dinge passiert sind und sie nicht nachstellen. Wir wollten den Orten auch erlauben gealtert zu sein; das Haus, in dem Tina und Ike gelebt haben zum Beispiel. Oder ihr Zuhause aus Kindertagen, das Teil eines Museums. Aber leider haben wir nur sehr wenig davon gedreht gehabt, bevor der Lockdown in den USA kam. Wir hätten uns sehr gewünscht, in dem Hotel zu drehen, in das sie geflüchtet ist. Da konnten wir aber nicht hin. Es gab also einige Abstriche.

Den Schnitt haben wir bei uns daheim gemacht und dabei über Videochat kommuniziert. Das hat es schwer gemacht. Außerdem haben wir den Film nie mit einem Publikum in einem Kino gesehen. Wir haben keine Ahnung, wie er ankommt. Das ist eine eigenartige Erfahrung – wir haben den Film fertiggestellt und keine Ahnung, ob Leute ihn mögen.

Aber trotz allem denke ich, wir haben im Großen und Ganzen das erreichen können, was wir erreichen wollten. Man kann ja auch keinen Disclaimer an den Anfang des Films setzen: „Entschuldigt bitte manches hiervon, wir haben den Film während Covid gemacht.“ (lacht)

Wieso gibt es nicht mehr Musik im Film? Musik ist zwar durchaus präsent, aber nicht sehr stark. Und Tina ist immerhin eine Sängerin. War das eine bewusste Entscheidung, den Anteil an Musik überschaubar zu halten oder gab es nicht genug Filmmaterial?

Dan Lindsay: Oh, wir hatten mehr als genug Material! Aber du hast recht und ich denke, man könnte noch einen wundervollen Film machen, der sich mit ihrer Musik auseinandersetzt. Ein Grund, warum wir das nicht gemacht haben, war ein pragmatischer: die Laufzeit. Ein anderer war, dass wir als Filmschaffende und Geschichtenerzähler nicht einfach auf die Hits stürzen wollten. Alles im Film musste einen narrativen Zweck erfüllen. Manche ihrer Hits, wie „River Deep Mountain High“, sind Teil ihrer Geschichte. Das war das erste Mal, dass sie ohne Ike gesungen hat und wir wussten, dass wir das hervorheben wollten. „What’s Love Got To Do With It“ war ein Riesen-Hit, aber es war auch der erste Tina Turner Song, wie sie selbst sagt: „Das war mein Song.“

Natürlich gab es auch Songs wie Tinas Coverversion von Al Greens „Let’s Stay Together“, die eine große Rolle auf ihrer Reise gespielt haben. Aber in der filmischen Struktur hat sich das wie eine Dopplung von „What’s Love Got To Do With It“ angefühlt. Auf manche Art waren wir also mehr von der Struktur der Handlung geleitet als von einer journalistischen Auseinandersetzung. Ich liebe auch ihre Performance von „Tonight“ mit David Bowie, aber es hat im Film nicht funktioniert.

T.J. Martin: Man muss auch dazusagen, dass Tina viele Leben gelebt hat. Und über jeden Abschnitt ihres Lebens könnte man eine eigene Miniserie drehen. Wir haben uns eine Fahrbahn ausgesucht und sind auf der geblieben. Jede Entscheidung, die wir getroffen haben, sollte den von uns gewählten Blickwinkel unterstützen.

Habt ihr im Gespräch mit Tina Turner eure Meinung über sie geändert? Habt ihr etwas Neues über sie gelernt?

T.J. Martin: Ich hatte keine Ahnung, wie sehr sie bis heute mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen hat. Diese Entdeckung allein hat uns dazu gebracht, mit dem Film die Richtung einzuschlagen, die wir gewählt haben. Abgesehen davon ist sie eine unfassbar liebenswerte Person! Und obwohl ich hasse, wenn Leute sagen, dass Promis „bodenständig“ sind: sie ist sehr bodenständig. Sie gibt einem das Gefühl willkommen zu sein und das war jedes Mal so, als wir sie trafen.

Dan Lindsay: Ich schätze sie jetzt viel mehr als Performerin. Ich kannte ihre Musik schon vorher, war aber kein großer Fan. Aber ihre Performance von „Help“, die auch im Film ist, haut mich jedes Mal um, wenn ich sie mir ansehe. Diese enorm kraftvolle Stimme! Und mir wurde klar, wie lange Tina schon relevant ist: von den späten 50ern, der Wiege der Popmusik, die 70er hindurch, dann kam MTV, wo sie auch zu sehen war… ihre Karriere ist unfassbar beeindruckend. Das habe ich so nicht gewürdigt, wie ich es jetzt tue.

Tinas Ehemann Erwin Bach ist ein Executive Producer des Films. Wie groß war sein Einfluss auf den Film?

Dan Lindsay: Wir hatten die Kontrolle über die endgültige Schnittfassung. Es war sehr hilfreich, dass Tina und Erwin Teil des Prozesses waren, insbesondere was den Zugang zu Kontakten betrifft. Wie man sich vermutlich vorstellen kann, sind viele Leute in Tinas Leben sehr beschützend und einige haben uns gesagt, dass sie regelmäßig angerufen werden, um Interviews über sie zu führen. Sie lehnen immer ab. Insofern war es sehr hilfreich, sagen zu können, dass Tina und Erwin mit an Bord sind!

Aber, was die Inhalte betrifft, das waren wir. Tina hat den Film erst gesehen, als er fertig war. Und Erwin haben wir vor der Fertigstellung eine Fassung gezeigt, um festzustellen, ob es etwas gibt, was wir womöglich übersehen haben. Das machen wir bei unseren Filmen immer.

Ich fand die Interview-Ausschnitte mit Tina und den Medien im Film sehr interessant – insbesondere, weil heute viel über das Verhalten der Medien insbesondere gegenüber weiblichen Popstars diskutiert wird. Wieso habt ihr euch entschieden, das zu inkludieren? Denn sie scheint häufig sehr frustriert.

T.J. Martin: Der Film navigiert durch sehr viel Trauma, obwohl es letzten Endes um die Suche nach Liebe geht. Sie ist nur umhüllt von Trauma. Ich denke nicht, dass die Medien hier der Feind sind. Sie stellen aber die Gesellschaft dar, die fortlaufend diese Vergangenheit ausgraben. Und wir sollten uns ins Bewusstsein rufen, was es für Überlebende bedeutet, wenn wir von ihnen lernen und ihre Geschichten diskutieren. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Überlebende ihre Vergangenheit erneut durchleben, wenn sie darüber sprechen. Und wir sollten unseren Sinn für Empathie dahingehend erweitern.

Dan Lindsay: Das ist ein schmaler Grat und ich habe nicht alle Antworten. Wir hatten ein Gespräch mit Oprah, das es letzten Endes nicht in den Film geschafft hat, bei dem wir darüber gesprochen haben, dass Tina dauernd mit der Frage „Warum bist du bei ihm geblieben?“ konfrontiert war und ob das nicht eine unfaire Frage sei. Oprah meinte: „Nein, das ist überhaupt keine unfaire Frage. Da draußen macht womöglich jemand das Gleiche durch oder versteht die Situation überhaupt nicht und es ist ein legitimes Anliegen darauf ein Licht zu werfen.“ Wo es aber problematisch wird, ist, wenn Tina gefragt wird: „Wieso bleiben Frauen bei bösen Männern?“ Wie trägt das zur Diskussion bei? Die Diskussion ist wichtig, wir müssen aber auch verstehen, wie es für die Betroffenen ist. Und das wollten wir mit den Interview-Clips darstellen: dass die Leute sie permanent auf diese Dinge ansprechen.

Das Interview fand am 03.03. via Zoom statt.

Titelbild: © Rhonda Graam