In Europa gehen wir in der Regel davon aus, dass in EU-Mitgliedsstaaten gewisse Grundstandards für alle gelten: Natürlich gibt es immer noch ein Gefälle zwischen Mittel-, Süd- oder Osteuropa, doch die Grundidee der EU ist (auch), den Kontinent zu vereinen und die gleichen Rechte und Bedingungen für alle sicher zu stellen. Dazu zählt unter anderem auch ein funktionierendes Gesundheitssystem, das – bei allen punktuellen und lokal bedingten Schwächen – eine ordentliche Gesundheitsfürsorge für alle Einwohner garantiert. Dass dem nicht so ist, bewies der politische Skandal, der Rumänien vor 6 Jahren nach dem verheerenden Brand im Bukarester Club „Colectiv“ erschütterte: 37 Verwundete starben in den Wochen und Monaten darauf aufgrund desaströser Zustände in den Krankenhäusern des Landes. Der Dokumentarfilm „Colectiv“ von Alexander Nanau, heuer auch für einen Oscar nominiert, begleitet Journalisten, die diese unfassbare Geschichte aufdecken. Der Film war im Programm des Crossing Europe Festivals 2021 zu sehen.

von Christian Klosz

Es sind erschütternde Bilder, die für sich genommen schon ausreichen, um zu schockieren: Lodernde Flammen, schreiende Menschen, Würmer, die sich durch Patienten fressen, Krankenhausvorstände, die sich wie Mafia-Mobster gebärden, überforderte und korrupte Politiker, die nur das eigene Interesse im Blick haben. „Colectiv“ beginnt mit Aufnahmen des folgenschweren Konzertes im Jahr 2015. Nachdem der Sänger einer Metal-Band seine wütenden Salven über/gegen Korruption abgefeuert hatte (ausgerechnet!), fängt ein Bühnenvorhang Feuer. Wenige Sekunden nach dem Hinweis des Sängers, dass das nicht „part of the show“ wäre, greift der Brand auf die Bühne und das Gebälk über und entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zum tödlichen Feuersturm. Ein Besucher hat die Szene mit dem Handy festgehalten, wir werden intime Zeugen eines panischen Fluchtversuchs durch Flammen und Rauch, der 27 jungen Menschen sofort das Leben kostet. Warum? Weil es im Club keine Notausgänge und nur mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen gab. Grund? Behördliche Korruption. Ausgerechnet.

Wütende Proteste folgten, die später die gesamte (sozialdemokratische) Regierung zum Rücktritt zwingen sollten. Doch es kam schlimmer: Diejenigen, die nicht im Feuer verbrannten, wurden in den rumänischen Krankenhäusern behandelt. Man tue alles, was man könne, versicherten die Behörden und Ärzte den Medien und Angehörigen. Die Behandlung wäre nicht schlechter als in (dem gern zitierten Vorbildland) Deutschland. Trotzdem starben knapp 40 Menschen. In den Krankenhäusern.

Von behördlicher Seite war man sich keiner Schuld bewusst, bis eine Gruppe von Journalisten rund um Catalin Tolontan zu recherchieren begann, seines Zeichens Sportreporter. Gerade er, der sonst über Tore, Treffer und Transfers berichtet, brachte den Stein ins Rollen, vor dem alle anderen davor die Augen verschlossen hatten. Erst fanden er und sein Team heraus, dass in den Krankenhäusern mangelhafte, bis zu zehnfach verdünnte Desinfektionsmittel verwendet wurden, die gegen Keime, Bakterien und bei Brandwunden geradezu wirkungslos sind. Patienten wurden zu zweit in Betten gelegt, ihre Gesichter mit Zetteln verdeckt, damit die behandelnden Ärzte ihr leidendes Antlitz nicht sehen mussten. Als man herausgefunden hatte, wer hinter den korrupten Desinfektionsmittelgeschäften steckte, starb der Betroffene, der auch im Verdacht stand, Politiker bestochen zu haben, Tage vor seiner Einvernahme bei einem Autounfall. „Suizid“ hieß es, die Leiche wurde allzu schnell beiseite geschafft. Mafia-Methoden von staatlicher Seite? Der Teppich, unter den der ganze Dreck gekehrt wurde, begann sich gefährlich und immer höher zu wölben.

Als nächstes fand man heraus, dass einige Krankenhaus-Manager ihre Doktoren-Titel wohl eher gekauft, als durch Studien erworben hatten, mitunter aus dem kriminellen Umfeld kamen und vieles im Kopf hatten, aber ganz sicher nicht das Wohlergehen ihrer Patienten. Scheinrechnungen wurden erstellt, Millionen wurden auf Offshore-Konten verschifft – und all das unter Mitwissen der Regierenden. Die Liste der Unfassbarkeiten ginge noch endlos weiter. Nanau musste in seinem Film nicht viel mehr tun, als die Kamera hinzuhalten, um dieses Sittenbild einzufangen, das sich vor ihm in Echtzeit abspielte.

Den Journalisten rund um Tolontan ist es zu verdanken, dass dieser Skandal überhaupt ans Licht gekommen ist, dem Regisseur, dass diese Geschichte grandiosen menschlichen Versagens auch einer breiteren Öffentlichkeit über Rumänien hinaus bekannt wird. Wir sehen schließlich auch den neuen Gesundheitsminister Vlad Voiculescu, Mitglied der Technokraten-Regierung nach dem Rücktritt der Sozialdemokraten, dabei, wie er versucht, in seinem Ministerium aufzuräumen. Er meint es ernst, ist selbst schockiert von den Zuständen, stößt aber überall auf Wände und Widerstände, die ein über Jahre gewachsenes, bis an die Wurzeln korruptes, bürokratisches System aufzieht, dessen Beharrungskräfte stärker scheinen als jeglicher idealistische Impetus. Er stößt in der kurzen Zeit der Übergangsregierung Reformen an, von denen er hofft, dass sie nach den Neuwahlen und unter einer neuen Regierung fortgeführt werden. Er wünscht sich, dass die Partei, die für all das verantwortlich ist, nicht mehr gewählt wird, um dann einfach zum altbekannten System zurückkehren zu können. Dann ist Wahltag. Und die Sozialdemokraten gewinnen mit einem nie dagewesenen Erdrutschsieg.

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Das letzte Wort in „Colectiv“ haben die Angehörigen eines nach dem Brand und durch die Behandlung verstorbenen jungen Mannes. Nach einem Besuch an seinem Grab ertönt bei der Heimfahrt aus dem Autoradio die Textzeile „Heroes don’t look like they used to / They look like you do“ aus dem Song „Nothing More“ der Band Alternate Routes, während der Vater in Tränen nach oben gen Himmel zeigt, wo er seinen viel zu früh verstorbenen Sohn vermutet. Eine unheimlich starke letzte Szene, die die ganze Tragik und das menschliche Leid dieser Tragödie auch emotional spürbar macht.

Bewertung:

Bewertung: 9 von 10.

(88/100)

Bilder: (c) Crossing Europe

Titelbild: Journalist Catalin Tolontan; Textbild: Gesundheitsminister Vlad Voiculescu