Man kennt das ja: nach einer offensichtlich harten Nacht erwacht man allein in einem unbekannten Hotelzimmer. Die Kleidung? Verschwunden, ebenso die eigene Erinnerung. Als ungebetene Gäste zum geselligen Beieinander einladen, ergreift man lieber die Flucht durch das nächste Fenster und sieht sich kurzerhand dutzenden, spärlich bekleideten Widersachern gegenüber, die einem mit Nachdruck (und Waffen) nach dem Leben trachten. Ein ganz normaler Sonntagmorgen eben.

von Cliff Lina

Aufmerksame Zeitgenossen mögen es vielleicht vermuten, diese tendenziell ironische Einleitung soll darauf anspielen, wie viel Wert „Carter“ auf Realismus legt. Diesen sucht man vergebens, vielmehr handelt es sich beim neuesten Netflix-Film um eine beinahe computerspielartige Melange aus Ego-Shooter, John Wick und Abschlussprojekt des Grafikkurses Wolfenbüttel. Inhaltlich begleiten wir den namensgebenden Protagonisten durch die Straßen Südkoreas, auf denen ein tödliches Virus zu grassieren droht, welches bereits in Nordkorea und den USA gewütet hatte. „The Sadness“ lässt grüßen. Carter selbst folgt dabei einer unbekannten Stimme in seinem Kopf, die ihn zu der Rettung eines jungen Mädchens animiert. Widersetzt er sich den Anweisungen, detoniert ein Sprengsatz in seinem Backzahn.

Der Fokus des südkoreanischen Actionfilms liegt augenscheinlich auf dem Krawall und der vollen Hingabe zu technischen Spielereien. Anfangs bereiten die eine Menge Spaß und zeigen sich auch qualitativ von ihrer stärkeren Seite. Es wird geschossen, geprügelt, gesprungen, gerannt und geschrien – alles eingefangen von Kameras, die das Geschehen durch den Einsatz von Drohnen in One-Shot-Optik durch Gebäude und Häuserschluchten verfolgen. Die ersten Minuten lassen keine Atempause, weder für das Ensemble, noch für den Zuschauer, der seine Sehgewohnheiten erst einmal auf das hektische Treiben justieren muss. Anders als zum Beispiel „The Gray Man“ oder jeder beliebige Michael Bay Film setzt „Carter“ nicht auf Schnitte im Sekundentakt, sondern labt sich vielmehr am Einsatz von Zeitlupen um Kämpfe und Verfolgungsjagden aus verschiedenen Winkeln abzubilden und kleinere Highlights zu setzen. Wenn sich Messer und Halsschlagader bedrohlich nahe kommen, hält die Kamera kurz inne und gibt uns einen Augenblick Zeit die Blutfontäne ausgiebig zu bestaunen.

An Ideen mangelt es dem Werk nicht, offenbar jedoch an Budget und/oder Durchhaltevermögen. Was zu Beginn noch positiv auffällt und für anerkennendes Kopfnicken sorgt, verliert sich im Fortlauf immer mehr. Die für geschulte Augen eh schon mangelhaft kaschierten Schnitte werden immer plakativer, und spätestens als man den Greenscreen fast schmecken kann, lässt „Carter“ auch den letzten Funken Glaubwürdigkeit hinter sich. Physikalische und anatomische Gesetzmäßigkeiten ausgeklammert, aber wenn Szenen so dilettantisch zusammengefügt werden, dass der Zuschauer in Realgeschwindigkeit den Versatz zwischen zwei Frames erkennen kann, ist dies einfach ein Zeichen dafür, dass unsauber gearbeitet wurde. Dass die erzählte Geschichte komplett abgekupferter Unfug ist, lässt sich verzeihen – gerade da sich „Carter“ diesem Umstand bewusst zu sein scheint, aber ein Mindestmaß an Sorgfältigkeit darf man auch in einem CGI-Gewitter aufblitzen sehen. In dessen tosendem Durcheinander werden selbstredend auch die schauspielerischen Leistungen zur Makulatur. Keine der Rollen hat auch nur den Anflug von charakterlicher Tiefe, und sämtliche Versuche eine emotionale Divergenz zu suggerieren, versumpfen im verkrampften Vorhaben das Level der Absurdität weiter nach oben zu pushen – oder werden kurzerhand von einem fliegenden Auto in den Asphalt gequetscht.

Fazit

Keine Zeit für Langeweile: In bester Hardcore Henry-Manier vollführt „Carter“ zwei Stunden lang wahnwitzige Actionsequenzen, an denen er seine Zuschauerschaft hautnah teilhaben lässt, währenddessen die Story inhaltsleere Luftlöcher schlägt. Technisch ist das durchaus unterhaltsames, kreatives Spektakelkino samt überbordendem Computereinsatz, die zugrundeliegende Geschichte (und so manchen Spezialeffekt) hat man jedoch im Bestfall so schnell aus dem Gedächtnis gestrichen wie der Protagonist seine Erinnerung. 

Bewertung

Bewertung: 5 von 10.

(47/100)

Bilder: ©Netflix

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