Nach der ebenso gehypten wie scharf kritisierten Serienadaption „Dahmer“ wirft Netflix mit „Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders“ die nächste filmische Aufarbeitung von „Schaffen und Wirken“ eines der grausamsten Mörder der letzten Jahrhunderte in den Ring, clever getimed, denn nach dem Wirbel um die Serie, die seit Wochen auf Platz 1 der Charts steht, will das Publikum natürlich wissen, wer das reale Monster hinter der Figur ist.

von Christian Klosz

True Crime-Fans können schon anhand des Namens des Urhebers der 3-teiligen Miniserie ahnen, was sie erwartet: Joe Berlinger ist ein alter Bekannter, wenn es um filmische Verarbeitungen von bizarren Kriminal- und insbesondere Serienmörder-Fällen geht, von ihm stammt nicht nur das sehenswerte Ted Bundy-„Biopic“ „Extremely wicked, shockingly evil and vile“, sondern auch die Bundy-Dokuserie „Conversations with a Killer: The Ted Bundy Tapes“ / „Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders“. Aus ebenjener Conversations-Reihe auf Netflix erschien erst zu Beginn des Jahres eine Miniserie über John Wayne Gacy, nun folgt eine Dahmer-Serie, die demselben Schema folgt.

Tatsächlich verfährt „Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders“ genauso wie die beiden vorangegangenen Miniserien. Anhand von Interviews mit Ermittlern, Anwälten, Zeugen, Bekannten des Täters und Audiomitschnitten von Gesprächen mit ihm versucht Berlinger, dem Publikum den Wahnsinn nahezubringen, der hinter den Taten des Mannes steht. Ebenso wie die beiden anderen Serien springt die dokumentarische Aufarbeitung zwischen Kindheit des Protagonisten, ersten kriminellen Taten und Zeitpunkt der Festnahme / des Prozesses. Technisch ist all das – wie von Berlinger gewohnt – ordentlich gemacht, wirkungsvoll geschnitten und erzählt.

Dass die Serie erst „Schwung aufnehmen“ muss, liegt auch an der eher untypischen Biografie von Jeffrey Dahmer. Denn ungleich vielen anderen Gewalttätern hat er selbst keine lange Geschichte von Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend hinter sich, sondern scheint – so legt das Selbstporträt des Serienmörders nahe – eine relativ normale Adoleszenz verbracht zu haben. Ja, sein Eltern hatten Probleme und Konflikte, stritten sich, es kam zu kleinen Handgreiflichkeiten zwischen ihnen und zur Trennung – alles trotzdem nichts, das nicht Millionen anderer Kinder auch erleben, die dennoch nicht zum „Monster“ werden. Dahmer selbst sagt an einer Stelle zu Ermittlern, er wolle seine Familie aus all dem „raushalten“, sie hätten nichts damit zu tun, er schwört Reue gegenüber seinen Eltern. Er erwähnt in den Tonband-Aufnahmen aus den Gefängnis-Interviews immer wieder, herausfinden zu wollen, warum er sei, wie er sei, warum er diese schrecklichen Taten verübt habe – er wisse es nämlich selbst nicht. Der einzige (eher spekulative) Konnex zur Kindheit wäre, dass Dahmer, wenn er von seinen Morden berichtet, immer wieder sagt, er hätte es getan, um „nicht verlassen zu werden“, damit seine Opfer bei ihm bleiben würden. Doch kann eine Trennung der Eltern, ein partielles Verlassen-Werden solch grausame Taten erklären?

Jedenfalls hält sich die Spannung in Folge 1 noch in Grenzen, da diese eben über Kindheit und Jugend des Protagonisten berichtet, die wenig spektakulär abliefen, kaum Aufschlüsse über die Taten geben, so wie Dahmers Leben im Gesamten – abseits seiner Gräueltaten – überhaupt wenig aufregend gewesen zu sein schien. Er wirkt(e), laut Erzählungen anderer, aber auch in den Interview-Aufnahmen, wie ein höflicher, intelligenter, nachdenklicher und ruhiger, junger Mann. Irgendwie heißt es das ja fast immer, dem hätte man das nie zugetraut, aber das, was Dahmer von vielen anderen Serienmördern unterscheidet, was sich dann im Lauf der Serie ab Folge 2, zeigt, ist eine seltsam klare Selbstreflexionsgabe, das offenkundige Wissen darüber, dass die Taten falsch waren und warum sie falsch waren, bei gleichzeitigem Unverständnis darüber, warum sie geschehen (mussten) und von ihm selbst nicht zu verhindern waren. Dahmer erzählt grausamste Details seiner Morde, die von Mal zu Mal abartiger und bestialischer werden, mit größter Ruhe, als würde er über das Wetter sprechen.

Als „Motiv“ für seine knapp 20 Morde, die zwischen 1978 und 1991 stattfanden, nennt er den Wunsch nach Kontrolle, danach, jemanden gefügig zu machen. Und die große Sehnsucht, nicht verlassen zu werden. Er will, dass seine Opfer, zu denen er sich (sexuell) hingezogen fühlt, bei ihm bleiben, wie er immer wieder sagt. Und weil er nicht wusste, wie er das anstellen sollte (etwa durch Aufbauen einer zwischenmenschlichen Beziehung, wie normale Individuen das machen), musste er töten.

Seine Opfer waren ausschließlich junge, meist körperlich attraktive Männer (Dahmer war homosexuell). Er erzählt nonchalant von Versuchen, sie aus Bars zu sich nach Hause zu locken, sie nackt zu fotografieren – und dann zu erschlagen, würgen, damit sie eben „nicht gehen würden“. Seine Methoden wurden immer grausamer, bis er mit einem Bohrer vorgenommene Lobotomien probierte, um seine Opfer zu „lebenden, willenlosen Zombies“ zu machen. Um sie nicht töten zu müssen, wie er sagt. Aber um trotzdem nicht von ihnen verlassen zu werden.

Am Ende stellt sich für Zuschauer, wie für das Gericht und Jury vor rund 30 Jahren die Frage: insane or evil? War Dahmer böse, oder „nur“ wahnsinnig? Die damals gegebene Antwort mag auch heute noch Gültigkeit haben, ein „Phänomen“ bleibt Jeffrey Dahmer weiterhin, da seine Taten zwar im Detail erzählt, nacherzählt, gezeigt und analysiert werden, aber dennoch nicht gänzlich verstanden werden können.

Fazit:

Für Freunde von True Crime-Formaten bietet „Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Serienmörders“ solides Ansichtsmaterial, das man so von Serienschöpfer Joe Berlinger gewohnt ist. Insgesamt nicht ganz so fesselnd und aufschlussreich wie der Vorgänger über John Wayne Gacy, arbeitet die Miniserie die Morde des Jeffrey Dahmer auf und gibt dem Publikum Einblicke in die Psyche eines abnormen Mannes. Es regiert die subtile Schockwirkung, die angesichts des Erscheinungsbild des Täters und seiner Aussagen trotzdem schwer fassbar bleibt und am Ende ein Enigma hinterlässt: So wie Dahmer nicht verstehen konnte, warum er tat, was er tat, bleiben auch wir weitgehend im Dunkeln. So bleibt man als Zuschauer – auch angesichts teilweise fehlender psychologischer Tiefe – am Ende doch etwas unbefriedigt zurück. Seit 7.10. auf Netflix.

Bewertung

Bewertung: 7 von 10.

(73/100)

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Bilder: (c) Netflix