Beunruhigend ansteigender Trommelwirbel mündet in eine unheilvolle Spieluhrmelodie. Eine sanfte Erzählerstimme meldet sich zu Wort und rezitiert die kryptische Einführung: „Suzy Banyon decided to perfect her ballet studies in the most famous school of dance in Europe. She chose the celebrated academy of Freiburg. One day, at nine in the morning, she left Kennedy airport, New York, and arrived in Germany at 10:40 p.m. local time.“

Ein ungewöhnlicher Einstieg in einen außergewöhnlichen Film, auf den man sich vollends einlassen muss, um ihn wirklich zu erfahren. „Suspiria“ ist vieles, aber eindeutig kein Werk, das als beiläufiger Hintergrundlärm genossen werden kann. Dieser Umstand ist nicht etwa einer verworrenen Story geschuldet, lässt sich der Plot doch ergänzend zum Prolog in ein bis zwei Sätzen zusammenfassen: Als Suzy die renommierte Tanzakademie erreicht, wird sie Zeugin, wie eine Elevin die Schule fluchtartig verlässt. Dieselbe junge Frau wird am nächsten Tag ermordet aufgefunden und Suzy beginnt zu vermuten, dass die altehrwürdigen Gemäuer ein dunkles Geheimnis beherbergen.

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Der minimalistischen Handlung zum Trotz ist die Vorzeigearbeit von Dario Argento, dem „Maestro“ des italienischen Horrorfilms, dennoch ein komplexes Gesamtkunstwerk. Ganz gemäß dem Grundprinzip gotischer Schauerromantik wendet er die Dialektik des Horrors an und stellt stimmungsvoller Symmetrie den Schrecken des Chaos gegenüber. Das Heimliche und Unheimliche koexistieren in seinem cineastischen Universum in symbiotischer Harmonie. Hochästhetische Architektur wird zum Schauplatz markerschütternden Grauens, während Höllenlärm nahtlos in Totenstille übergeht. In Primärfarben getauchte Kulissen rahmen ein Kunstwerk, das mit der Bildgewalt eines barocken Ölgemäldes besticht. Allem voran ist es das schreiende Rot der Schule, das sich wie eine nicht enden wollende Blutspur durch den Film zieht. Mit der Theatralik einer klassischen Oper lässt Argento seine Heldin durch die Phasen eines bedrückenden Fiebertraumes tanzen.

Zwei folgenschwere Entscheidungen im Entstehungsprozess waren ausschlaggebend für die Wirkungskraft des Endprodukts. Einerseits die Anwendung des zur Produktionszeit bereits im Aussterben begriffenen Technicolor-Verfahrens in der Filmentwicklung; einer Methode zur Farbherstellung, die für den unverwechselbaren Look früher Farbfilme wie „The Wizard of Oz“ verantwortlich war. Zum anderen ist es die Wahl des unheimlich unheimlichen Soundtracks, der pre-recordet und beim Dreh abgespielt wurde, um die gewünschte Gebanntheit der Darsteller bestmöglich zu generieren und das Ineinanderwirken der Sinneseindrücke bereits in der Schaffensphase zu evozieren. Das Ergebnis der unkonventionellen Arbeitsweise ist permanente Spannung ungeachtet mangelnder Twists und eine märchenhafte, traumähnliche Atmosphäre, die nur ihren eigenen Gesetzen untergeben ist.

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Dario Argentos filmischer Kanon ist gekennzeichnet von einer beständigen Gratwanderung zwischen Kunst und Kommerz und wird in der Kritik gerne für das Phänomen „Style over Substance“ gerügt. Zumindest im vorliegenden Fall scheint der Vorwurf aber unberechtigt, zumal ein Film dieser Kategorie nicht nach herkömmlichen Standards beurteilt werden kann. „Suspiria“ muss als das begriffen werden, was es ist: surreales Kino in Reinkultur, bei dem das Erfahren des Gezeigten in den Fokus genommen wird. Die auratische Strahlkraft blendet den interpretatorischen Blick und bestätigt „Suspirias“ Charakter als singuläre Erscheinung am Horror-Horizont.

Das farbenprächtige Schauermärchen ist ein sinnliches Rundumerlebnis und unbestrittener Klassiker des Genres, der auch vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung unverändert zu verstören weiß. Nicht umsonst rangiert „Suspiria“ in sämtlichen Rankinglisten der besten Horrorfilme konsequent im vorderen Drittel.

von Daniel Krunz

Unsere Kritik zum 2018-er-Remake: „Suspiria“ (2018) – Kritik