Einige Momente steht ein Mann vor der Eingangstür eines Keller-Café, bevor er eintritt. Er erfragt den Namen einer Gästin, doch es handelt sich nicht um die Frau, die er sucht. Also geht der Mann wieder. Aus dem Off kommentiert die Erzählerin: „Ich sah einen Mann, der sich verirrt hatte“ und die Szene ist zu Ende. Der neueste Film des schwedischen Ausnahmeregisseurs Roy Andersson erzählt keine stringente Geschichte. Stattdessen reiht er eine Vielzahl kurzer Tableaus aneinander, in denen er über das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche reflektiert – über Traurigkeit, Vergänglichkeit, Liebe und Glauben. Über das menschliche Dasein und „Über die Unendlichkeit“.

von Paul Kunz

Die Bilder, die Andersson für die kurzen Einblicke in die Leben der zahlreichen Protagonisten wählt, eint eine triste Farbpalette voller Grau- und Brauntöne. Die kunstvoll ausgestalteten Tableaus gleichen Gemälden, deren melancholische Schönheit wir dank der stets statischen Kamera (Gergely Pálos) und einer wunderbar großen Tiefenschärfe bis ins Detail erkunden dürfen. „Ich sah…“ leitet die Erzählerin (Jessica Louthander) jedes der Bilder mit sanfter Stimme ein – mag sie die Frau sein, die in einer der schönsten Augenblicke des Films in den Armen eines Mannes über das kriegszerbombte Köln schwebt?

Meist sind es völlig triviale Momente, an denen Andersson uns teilhaben lässt, doch manches Mal überrascht er mit der Schilderung höchst tragischer oder historisch bedeutender Augenblicke: Der Mann, der einen Ehrenmord begeht, bekommt ebenso Zeit wie Adolf Hitler, der im Führerbunker erkennt, dass er den Krieg verliert. In mehreren tragikomischen Sequenzen folgen wir einem Priester, der vom Glauben abgefallen ist und an der Leere, in der er sich wiederfindet, zu verzweifeln droht. Doch sein Therapeut kann ihn trotz der Dringlichkeit des Anliegens nicht einschieben, denn er muss seinen Bus erwischen. Für die großen Fragen bleibt keine Zeit, wenn der Alltag ruft. Es ist traurig, lustig, absurd und dabei zutiefst menschlich.

Gerade in Anbetracht solcher Szenen erscheinen die kleinen Dinge im Leben, die Andersson den tragischeren Bildern gleichwertig gegenüberstellt, besonders freudvoll. Rührend ist etwa das Bild, in dem ein Vater seiner Tochter im Regen die Schuhe bindet. Dann wieder sehen wir drei junge Frauen, die vor einem Café zu tanzen beginnen. „Über die Unendlichkeit“ findet die Einzigartigkeit in diesen banalen Momenten, er kehrt die Besonderheit des Menschlichen hervor und lädt dazu ein, sich an ihrer Schönheit zu erfreuen.

Fazit

Mit seinen statischen Einstellungen, seiner unaufgeregt grau-braunen Farbpalette und seiner knappen Spielzeit von 76 Minuten könnte man „Über die Unendlichkeit“ als einen in vielerlei Hinsicht stillen Film bezeichnen. Doch die Vielfalt der kurzen Szenen, die so überraschend und vielseitig, voneinander unabhängig und in ihrer Anordnung doch so schlüssig sind, ziehen uns tief in ihren Bann und erlauben uns den Blick auf etwas Größeres. Und damit ist Roy Andersson ein in seiner Stille wunderbar spektakuläres filmisches Kunstwerk gelungen, das zu bewegen vermag.

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

„Über die Unendlichkeit“ startet am 11.9. in Österreich im Kino und am 17.9. in Deutschland.

Bilder: (c) 2019 Neue Visionen