Können wir Werk und Autor:in voneinander trennen? Es ist eine Frage, die schon die Rezeption eines Richard Wagner prägte, aber in Anbetracht gegenwärtiger Debatten zu J.K. Rowling auch enormen Aktualitätsbezug besitzt. Was heute vielfach unter dem Schlagwort der Cancel Culture diskutiert wird, ist auch Gegenstand in “Tár”. Im ersten Film von Todd Field seit über 15 Jahren setzt sich der Regisseur mit dem Verhältnis von Kunst und Kunstschaffenden auseinander und wirft das Schlaglicht insbesondere auf die Machtstrukturen, die dieses Verhältnis durchziehen. Das gravitative Zentrum des Themenkomplexes bildet eine Figur, die faszinierender kaum sein könnte: Stardirigentin Lydia Tár, verkörpert von einer Cate Blanchett in Höchstform.

von Paul Kunz

Mit hohem Detailgrad und einer offenkundigen Kenntnis der Musikwelt zeigt “Tár” den Arbeitsalltag der weltbekannten Dirigentin. Wir lauschen Lydia Tár beim Interview mit Adam Gopnik und begleiten sie bei Orchesterproben oder Universitätskursen, die sie leitet. Diese Einblicke in Társ Berufswelt erscheinen derart authentisch, dass man glauben könnte, bei der fiktiven Dirigentin handle es sich um eine reale Person. Dieser Authentizitätsanspruch des Films wird maßgeblich gestützt von der Bildgestaltung Florian Hoffmeister. Seine präzise und nüchterne Kamera betrachtet das Geschehen aus einer dokumentarischen Distanz, die nur ab und an von symbolisch aufgeladenen Bildern gebrochen wird. Dann lässt der Film auch dunklere Töne anklingen. Nur zu bald treten Machtstrukturen zutage, die die Welt der Dirigentin durchziehen und die Tár vermeintlich sicher zu navigieren weiß.

“Tár” verschreibt sich voll und ganz der Psychologie seiner Hauptfigur. Und diese ist in vielerlei Hinsicht spannend. Lydia Tár ist eine lesbische Frau, verheiratet mit der deutschen Konzertmeisterin Sharon (Nina Hoss), mit der sie eine gemeinsame Tochter in Berlin großzieht. Als Mitglied einer marginalisierten Gruppe, die in einem männlich dominierten Berufsfeld Erfolge feiert, könnte sie als feministische Heldin inszeniert werden. Der Film macht sie stattdessen zur Täterin. Tár selbst verwehrt eine Reduktion ihres Schaffens auf die eigene Identität vehement und vertritt die Überzeugung, Kunst und Künstler:in streng voneinander zu trennen. In einer einnehmenden Szene gerät sie in Konflikt mit einem Studenten, der als queere person of color Vorbehalte zeigt, die Musik des weißen, männlichen Bach zu dirigieren. Tár findet scharfe Worte für die Überzeugungen des jungen Dirigenten, doch ihr Verhalten wird sie Lügen strafen: Tár vergibt wichtige Positionen im Orchester keineswegs aufgrund künstlerischer Fähigkeiten, sondern nach individueller Sympathie und sexueller Attraktion. Dass ihr Machtmissbrauch ihre Liebe zur Kunst nicht negiert, sorgt unter anderem für die interessante Ambivalenz der Figur.

Der Film bringt viele Themen aufs Tableau, bezieht selbst aber zu wenigen Stellung. Er ist vorrangig damit beschäftigt, die Psyche seiner Hauptfigur auszuleuchten und ihren Umgang mit den aufgeworfenen Fragen zu zeigen. Weil “Tár” zwar eine Reihe an Problemen und Fragen ausbreitet, deren Deutung aber gänzlich dem Publikum überlässt, vermeidet der Film die Falle, zu simple Antworten auf komplexe Fragen zu geben. Gleichzeitig ist hier eine Schwäche des Films zu verorten: seine thematische Stringenz tritt hinter der Protagonistin zurück.

Diese schillert dafür in all ihren faszinierenden Widersprüchlichkeiten und narzisstischen Persönlichkeitszügen und wird im kraftvollen Spiel von Cate Blanchett auf packende Weise lebendig. Blanchett spielt Tár als dauerhafte Selbstdarstellerin, die über jedes ihrer Worte, jede ihrer Gesten genauso Kontrolle ausübt, wie über die Menschen in ihrem Leben – oder ein Orchester. Doch die wahren Abgründe ihrer Psyche eröffnen sich erst, wenn Geheimnisse aus der Vergangenheit diese Kontrolle gefährden. Und mit Társ geistiger Verfassung zerfasert folgerichtig auch die Handlung.

Fazit

Todd Field ist mit “Tár” eine tiefschürfende Charakterstudie gelungen. Was als stilsicher inszenierte Darstellung des Dirigentinnenalltags beginnt, wird bald zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit den Machtstrukturen des Kunstbetriebs und der Frage nach dem Verhältnis von Werk und Autor:in. Mit Lydia Tár steht eine komplex geschriebene und von Cate Blanchett herausragend gespielte Figur im Mittelpunkt der Handlung. Groß!

Bewertung

Bewertung: 9 von 10.

(91 von 100)

Ab 2.3. im Kino.

Weiterlesen: Interview mit dem für “Tár” oscarnominierten Kameramann Florian Hoffmeister

Titelbild: Universal Pictures