“Air”, der neue Film von Ben Affleck, ist seit Donnerstag im Kino zu sehen. In 112 Minuten erzählt er die Geschichte des Air Jordan, eines Ereignisses, das kaum ausschweifender ist als der dazu gehörende Wikipedia-Artikel. Und man kann sich schon fragen, was so besonders an dem Drumherum ist, dass ein Film darüber eine Notwendigkeit erfährt. Doch “Air” straft alle Skeptiker Lügen.

von Richard Potrykus

“Air” beginnt mit einer Collage von so ziemlich allem, was in den 1980er Jahren Bedeutung hatte: Politiker werden gezeigt, Sportereignisse, technische Innovationen, Hollywood-Filme. Dann kehrt Ruhe ein und die Handlung rund um Sonny Vacarro (Matt Damon) beginnt. Vacarro arbeitet bei Nike und ist Teil eines Teams, welches Basketballsportler als Werbegesichter verpflichten soll. Es wird deutlich kommuniziert, dass sich hauptsächlich drei Marken für Sportschuhe den Markt im Basketballsegment untereinander aufteilen und dass Nike weit hinter den Konkurrenten Adidas und Converse zurückliegt. Dementsprechend aussichtslos scheint die Situation.

Eines Abends schaut Vacarro den Mitschnitt eines Basketballspiels, an dem Michael Jordan beteiligt ist, und ist von dem Moment an besessen von der Idee, Jordan unter Vertrag zu nehmen. Es ist allseits bekannt, dass dieser nichts mit Nike zu schaffen haben will, und so fasst Sonny den Plan, den jungen Basketballstar, der sowohl von seinem Agenten (Chris Messina), als auch von seiner Familie (Viola Davis, Julius Tennon) wohl behütet wird, entgegen aller Widerstände für sich und das Unternehmen zu gewinnen.

Die Geschichte hinter “Air” ist eigentlich schnell erzählt und man könnte leicht vermuten, der Film wäre mit seinen fast zwei Stunden zu lang geraten. Zugegeben, länger hätte es nicht sein müssen, doch schafft Regisseur Ben Affleck eine Atmosphäre, die ihn schnell vom Sport(-schuh)drama abhebt, wodurch er Relevanz erhält. Auf einmal geht es nicht mehr um wirtschaftliche Sicherheiten oder um das Wunderkind mit dem Basketball. Der Film entfernt sich dermaßen von Michael Jordan, dass er es sich leisten kann, den Schauspieler (Damian Delano Young) nie ganz zu zeigen, nie das Gesicht von vorne zu präsentieren und ihm auch keine Sprechakte zu geben.

Plötzlich geht es um “Identität” und das Risiko, dass nur der gewinnt, der etwas wagt. Der Satz “Ein Schuh ist nur ein Schuh, bis ihn jemand anzieht” wird zu einer Art Mantra und der Schuh als Ware wird ideologisch aufgeladen. Jordan wird entmenschlicht und mystifiziert. Aus dem Sportler wird ein Zeitgeist, eine Idee. Und dann ist sie auf einmal da, die Vision vom ganz großen Geld. In gewisser Weise erinnert sich der Film an seinen Vorspann. Die vielen Eindrücke, die noch heute dieses Jahrzehnt zu definieren scheinen, jenes kollektive Gedächtnis, auf das sich alle einigen können. Aus dem Schuh wird ein Symbol und aus dem Sportler eine Bedeutung. Kultur und Identität erfahren die ultimative Kommodifizierung und aus den Figuren werden gottähnliche Erscheinungen, die bestimmen, was wahr ist, und gleichsam ergriffen davon sind.

Allgemein wird über die Charaktere in “Air” nicht viel erzählt. Hier und da wird eine Vergangenheit referenziert, aber sie als runde Figuren zu bezeichnen, wäre zu viel gesagt. Und dennoch wirkt vieles an diesem Film unheimlich intim und irgendwie richtig. Verantwortlich dafür zeichnet der Kameramann Robert Richardson, der mit jedem seiner Bilder ein Maximum an Intimität erzeugt und den Figuren über ihre Emotionen Volumen verschafft. Er wechselt immer wieder zwischen distanzierten, ruhigen Einstellungen, dynamischen Kamerafahrten und besonderen Nahaufnahmen, die nicht verschweigen, dass der eine oder andere Schauspieler auch nicht mehr der jüngste ist.

Das ganz große Plus in der Besetzung ist Viola Davis als Mrs. Jordan. Ihr Spiel mit der Balance zwischen der Liebe zu ihrem Sohn und dem Kalkül, wenn es um die Interessen eines Sportlers geht, grenzt an Perfektion. Sie und Richardsons Kamera gehen eine besondere Verbindung ein und es wäre gelacht, wenn ihre Darbietung nicht wenigstens eine Nominierung für die beste Nebendarstellerin bei den Oscars 2024 nach sich ziehen würde.

Fazit

“Air” ist ein großer Film, welcher auf wahren Begebenheiten beruht. Das Ende ist zwar mehr als vorhersehbar, es dürfte wohl niemanden auf dem Planeten geben, der nicht schon einmal vom Air Jordan gehört hat. Doch der (filmische) Weg dorthin ist die Reise auf jeden Fall wert. Seit 6.4. im Kino.

Bewertung

Bewertung: 8 von 10.

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Bild: (c) Amazon Content Services LLC / Warner Bros.